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Das schwarze Blut

Titel: Das schwarze Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Elisabeth zu Geständnissen zu verleiten und vielleicht ein mageres kleines Vergnügen daraus zu ziehen, hatte ihn unerwartet eine Fotografie in Bann geschlagen.
    Damit hatte er nicht gerechnet – nicht im Geringsten. Es war mehr als ein schönes Gesicht: Elisabeth war eine Offenbarung.
    Es war der von dunklen Locken umrahmte Kontrast zwischen der subtilen, von den ausgeprägten Wangenknochen und starken Brauen erhöhten Schärfe ihres Ausdrucks und der Sanftheit, ja Zärtlichkeit, die von der unteren Gesichtspartie ausging. Ihr Mund vor allem, die schön geschwungenen, klaren Lippen drückten eine verschmitzte, beinahe amüsierte Sinnlichkeit aus.
    Doch es waren die Augen, die ihn verzauberten: eine schwarze Iris, rein wie Quarz, umgeben von einem strahlenden Ring – der vielleicht ein goldener Rand sein mochte, aber das Foto war schwarzweiß –, und leicht asymmetrisch. Diese merkwürdige Achsenverschiebung der Augen war unwiderstehlich. Sie fuhr glatt durch die üblichen Filter der Wahrnehmung, durch Vorurteile und Gewohnheiten hindurch und sprengte jeden Bezugsrahmen, jeden Selbstschutz. Man stand nackt vor diesem Blick und fühlte sich zerfließen, kapitulieren, im tiefsten Inneren getroffen.
    »Getroffen« war das richtige Wort.
    Eine Wunde, die immer weiter aufklaffte. Ein Verlangen, das schon jetzt schmerzhaft war. Ein angstvoller Ruf … HätteJacques diese »Passantin« am Strand von Koh Surin getroffen oder in den Ruinen von Angkor, hätte er sie augenblicklich erwählt. Niemals hätte er zugelassen, dass sie zu einer dieser »einstigen enttäuschten Hoffnungen« würde. Und sie wäre seine schönste Beute geworden. Sie allein fegte mit einem Handstreich alle früheren Erwählten beiseite.
    Dieses Gesicht veränderte alles.
Jacques war jetzt entschlossen, das Spiel der Geständnisse mitzuspielen.
Und noch darüber hinauszugehen.
Die Warteschlange geriet plötzlich in Unruhe.
    Ein Tumult brach aus, Rufe ertönten und rissen Reverdi aus seinen Gedanken. Vielleicht war das der Glücksfall, auf den er gewartet hatte. Er zwängte sich durch das Getümmel und sah einen Mann von Krämpfen geschüttelt auf dem Boden liegen. Vor seinem Mund stand blutiger Schaum, und die Augen waren nach hinten verdreht. Ein Epileptiker, dachte Jacques, der Kerl wird gleich seine Zunge fressen.
    »Beiseite!«, schrie er auf Malaiisch, zog sein T-Shirt aus und stopfte es dem zuckenden Mann auf dem Asphalt in den Nacken. Er griff nach seinem Löffel, den er immer bei sich hatte, und versuchte dem Kranken den Stiel in den Mund zu schieben. Es brauchte mehrere Anläufe, bis er den Löffel so zwischen den Zähnen verkeilt hatte, dass der Mann wieder Luft bekam.
    Schließlich drehte Reverdi ihn auf die Seite, damit er nicht an seinem Erbrochenen erstickte. Der Mann war außer Gefahr, die Krise wäre bald überstanden. In dem Moment erkannte er den Epileptiker: Es war ein Indonesier, ein Frauenmörder mit dem Spitznamen »Vitriol«, weil er seinen Opfern mit Säure das Gesicht verätzte.
    »Was ist da los?«Jacques drehte sich zu der Stimme um und sah in der Menge ein Gesicht hinter einem hellgrünen Mundschutz. Er stand auf und trat zur Seite.
    Der Arzt horchte den Indonesier ab, dessen Krämpfe allmählich nachließen. Er wiederholte Reverdis Handgriffe, stützte den Nacken, prüfte die Atmung. Dann zog er seinen Mundschutz herunter. Es war der alte Gefängnisarzt, ein Inder namens Gupta. »Wer hat sich um den Mann gekümmert?«, fragte er in die Runde.
    Reverdi trat einen Schritt vor und sagte auf Malaiisch: »Ich. Er braucht eine Valiumspritze.«
Der Arzt runzelte die Stirn. Es war ein alter Mann mit kohlrabenschwarzem Gesicht, die Haare klebten ihm an der Stirn. Er wechselte ins Englische:
»Bist du Arzt?«
»Nein. Ich war mal Sanitäter.«
Gupta warf einen Blick auf den Indonesier, der sich stoßweise erbrach. Der Löffel steckte ihm noch in der Kehle wie ein Beweisstück.
»Woher bist du? Europa?«
»Frankreich?«
»Wieso bist du hier?«
»Da sind Sie aber der Einzige, der das nicht weiß. Mord.«
Der Arzt nickte, als erinnerte er sich jetzt an den »speziellen Häftling«. Zwei Krankenpfleger kamen und legten Vitriol auf eine Trage. Nun stand auch der Arzt auf, schob seinen Mundschutz wieder zurecht und sagte zu Jacques: »Du kommst mit mir.«
Reverdi kannte die Krankenstation gut: Hier holte er jeden Mittag vor der Essensausgabe seine Medikamente ab. Das Gebäude war ein Block aus Fertigteilen, dessen Wände mit schwarzen

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