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Das schwarze Blut

Titel: Das schwarze Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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kam ihm alles wie ein Spiel vor. Doch an der Schwelle seines Bewusstseins lauerte die Angst.
    Manche Passagen in Reverdis Brief waren ausgesprochen beunruhigend, etwa wenn er einen »anderen« erwähnte, der vielleicht der wahre Mörder und noch in Freiheit sei … Mark zuckte die Achseln. Das war sicher alles nur Bluff. Nur eine Vorsichtsmaßnahme für den Fall, dass diese Korrespondenz abgefangen und gegen ihn verwendet wurde.
    Im Taxi, das ihn nach Hause brachte, stellte er eine Liste der Einkäufe und Erledigungen zusammen, die vor der Abreise erforderlich waren. Das alles, fand er, ließe sich innerhalb der nächsten zwei Tage bewerkstelligen. Es war der 6. Mai. Der 8. war ein Feiertag, ein Donnerstag, und der Beginn eines dieser endlosen verlängerten Wochenenden, die Mark verabscheute. Bis zur nächsten Woche zu warten war undenkbar.
    Doch zuerst galt es Ordnung zu schaffen.
    Binnen weniger Stunden hatte er sein Leben wieder in die Hand genommen. Er wusch und rasierte sich, schniegelte sich von Kopf bis Fuß. Dann eilte er in die Reinigung, wo er mehrere Jacketts und eine Reihe von Hosen und Hemden abgegeben hatte, die er längst hätte holen sollen. »Wir sind eine Reinigung und kein Depot«, maulte die Chefin. Mark zahlte ohne ein Wort und ging.
    Nach Hause zurückgekehrt, nahm er die Fotos von Reverdi von der Wand und legte sie sorgfältig in eine Urkundenmappe. Er sortierte seine Artikel, Notizen und Nachrichten, sammelte die Kopien seiner Briefe und Reverdis Antworten ein und stieß dabei auf Khadidschas Foto, das er sich kopiert hatte.
    Dieses Mädchen war wirklich überwältigend, das musste er zugeben. Unter der Ebenmäßigkeit ihrer Züge schimmerte etwas Ungezähmtes, Unbändiges hervor, das sie noch schöner, noch kraftvoller erscheinen ließ als die meisten ihrer Kolleginnen. Vielleicht waren es diese leicht achsenverschobenen Pupillen. Oder ihre zu hohen Wangenknochen, die je nach Lichteinfall senkrechte, fast bedrohliche Schatten auf das Gesicht warfen. Oder diese Wehmut, die sich bisweilen wie ein Schleier über ihre Augen legte …Bei ihrem Anblick hatte er an die Klavierkonzerte von Bartók und Prokofjew denken müssen, in denen die Melodie, umsäumt von dissonanten Akkorden, aus einem Sediment der Gewalt hervorzubrechen scheint und dabei immer schöner und klarer wird. Er stellte die Fotografie auf seinen Schreibtisch und lächelte ihr zu.
    Virtuell teilte er dieses Mädchen mit einem Mörder.
    Doch es würde ihr keiner mehr nahe kommen, weder der eine noch der andere.
Er klappte die Urkundenmappe zu und verstaute sie in seinem Archiv, dem kleinen Nebenraum mit dem Pilzgeruch. Auch das schien ihm symbolisch: dass er die umfangreiche Dokumentation verräumte, über die er so viel gegrübelt und fantasiert hatte. Er kehrte in die reale Welt zurück. Sein Kontakt mit Reverdi war keine Schimäre mehr.
Konkret wurde jetzt allerdings auch die Geldfrage.
Den Abend verbrachte Mark damit, sich über die anfallenden Kosten klar zu werden. Ein Hin- und Rückflugticket nach Südostasien kostete nicht die Welt, solange man sich an feste An- und Abflugdaten hielt. Mark wusste aber weder, wohin genau er fliegen, noch wie lange er bleiben würde. Zweifellos würde er die Länder bereisen, in denen Reverdi gelebt hatte: Malaysia, Kambodscha, Thailand … Er musste also ein Ticket mit offenem Rückflug kaufen – mit Abstand das teuerste. Und die anderen Flüge ins jeweilige Nachbarland vor Ort buchen.
Er war ein erfahrener Reisender. Den Bedarf für In- und Auslandsflüge sowie für Mietwagen schätzte er auf etwa viertausend Euro. Dazu kamen Hotels, Restaurants und ein Polster für unvorhergesehene Zwischenfälle. Er veranschlagte fünftausend Euro als Reisekosten.
Ferner brauchte er ein Notebook samt Programmen – keinesfalls wollte er über seinen Macintosh und seinen heimischen Internetzugang mit Reverdi kommunizieren. Nach einem kurzen Blick auf diverse Angebote hielt er zweitausend Euro für ausreichend. Wenn er nun noch ein Sicherheitspolster hinzurechnete, kam er auf ein Gesamtbudget von rund achttausend Euro.
Aber woher nehmen?
Vorsichtshalber sah er sich seinen Kontostand an: Sein Guthaben betrug nicht mehr als tausend Euro. Gerade genug, um über die Runden zu kommen, wenn er, wie üblich, von der Hand in den Mund lebte. Er überprüfte seine übrigen Konten: alle leer. Nirgends ein Depot. Keinerlei Reserve. Seit bald sechs Jahren lebte er so, ohne Sicherheitsnetz, von einem Tag auf den

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