Das schwarze Blut
Holzbrettern verkleidet waren. Es war in drei Räume aufgeteilt: einen großen Krankensaal mit eisernen Betten, im hinteren Teil ein Sprechzimmer, und links davon gab es noch einen kleinen Verschlag, in dem das »Archiv« zwischengelagert war – Berge von Akten, die von den wechselnden Trocken- und Regenzeiten vergilbt waren.
In normalen Zeiten war dies der ruhigste Ort im ganzen Gefängnis, wo nur ein paar Verletzte auf ihren Betten zu stöhnen pflegten, während sie auf die Verlegung ins Zentralkrankenhaus warteten. Heute hingegen herrschte ein wüstes Gedränge: Die Leute stießen und schoben, rempelten einander und drückten gegen die wankenden Mauern, sodass das ganze windige Gebäude in die eine oder andere Richtung zu kippen drohte. Rund um jedes Bett hatten als Kosmonauten verkleidete Ärzte eigene »Sprechzimmer« eingerichtet, um die sich widerstrebende, furchtsame Häftlinge scharten, die von kaum weniger beunruhigt wirkenden bewaffneten Wächtern im Zaum gehalten wurden. Alle hier schienen einen unsichtbaren Feind zu fürchten, der jeden Moment zuzuschlagen drohte: SARS.
»Mir nach«, schnaufte Gupta unter seinem Mundschutz.
Sie zwängten sich durch die Menge. Der Arzt hatte einen merkwürdigen, schulterrollenden Gang, zwischen Macho und behindert. Reverdi, der die Menge um Haupteslänge überragte, folgte ihm. Er hörte einen Arzt über die unbrauchbaren Venen eines Drogenabhängigen schimpfen, ein anderer schrie auf, weil ihn ein Schwall Blut bespritzt hatte.
Die ärztliche Untersuchung schien sich auf eine Massenblutabnahme zu beschränken. Das Blut floss in Strömen, in Röhrchen, Flakons und Adern. Dutzende Behälter wurden gefüllt, beschriftet und in Transportgefäßen mit gestanzten Einsätzen fortgetragen. Reverdi wurde übel. Er konnte den Anblick dieses Blutes nicht ertragen – es war das genaue Gegenteil seiner Suche. Männerblut. Ein unreines Blut.
Gupta öffnete eine Schiebetür. Reverdi trat erleichtert ein und stand in einem friedlichen Kabinett. Ein massiger Eichenschreibtisch, darauf ein Durcheinander von Krankenakten, eine hölzerne Messlatte, eine Waage, an der Wand eine Tafel mit Buchstaben und Zahlen in abnehmender Größe – die Ordination eines klassischen Landarztes.
Der Arzt nahm einen Papierstapel von dem Stuhl, der vor dem Schreibtisch stand:
»Setz dich.«
Gupta nahm hinter dem Schreibtisch Platz und zog den Mundschutz herunter. Sein dunkles Gesicht war eine Mischung aus Erschöpfung und Missmut. Jacques fühlte sich an ein Stempelkissen erinnert, das nach zu langem Gebrauch die Abdrücke aller möglichen Stempel trägt.
»Wegen was genau sitzt du?«
»Wegen nichts.«
Gupta seufzte. »Hab ich ein Glück, dass ich in diesem Universum Unschuldiger lebe.«
»Ich habe nicht behauptet, ich sei unschuldig.«
Der alte Arzt musterte ihn scharf. »Was legt man dir also zur Last?«, fragte er weiter.
»Den Mord an einer Frau. Einer Europäerin. In Papan. Jacques Reverdi: Den Namen haben Sie nie gehört?«
»Ich habe kein Gedächtnis für Namen«, erwiderte Gupta. »Was hier drin eher von Vorteil ist. Übrigens geht es mich nichts an, was du außerhalb dieser Mauern getan hast.«
Er faltete die Hände und schwieg wieder eine Weile. Es war ein nervöses, geladenes Schweigen, während er unter dem Tisch ununterbrochen mit einem Fuß tappte. Draußen im Saal stieg der Lärmpegel.
»Den Epileptiker vorhin kenne ich allerdings … Vitriol. Er ist in Behandlung, aber er verkauft seine Tabletten weiter. Du weißt, dass du ihm das Leben gerettet hast?«
»Gut.«
»Oder schlecht. Er hat mehr als zwanzig Frauen auf dem Gewissen. Aber darum geht es ja nicht, wie gesagt. Du bist in UHaft?«
»Ja.«
»Also keine Arbeit in den Werkstätten?«
»Nein.«
»Wärst du bereit, uns zu helfen, falls eine SARS-Epidemie ausbricht?«
»Kein Problem.«
»Hast du keine Angst vor Ansteckung?«
»Ich bin sowieso so gut wie tot. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich verurteilt werde, liegt bei hundert Prozent.«
»Sehr gut. Das heißt, ich meine …«
Draußen wurde es immer lauter. Direkt hinter der Tür stieß ein Arzt wilde Flüche aus, weil eine ganze Serie gefüllter Röhrchen auf dem Boden zerschellt war. Jacques dachte an das Blut – all das Venenblut, das in seinem dunklen Glanz leuchtete … Die Vorstellung brachte ihn wieder auf Elisabeths Brief. Ihre Geständnisse waren eine weitere positive Überraschung gewesen. Sie drückte sich intelligent und originell aus. Wie sie von ihrem Blut sprach – welche
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