Das schwarze Buch der Geheimnisse (German Edition)
auf. »Ah, Latein«, sagte er. »Die Sprache der Präzision. ›Gesprochenes vergeht, Geschriebenes besteht.‹ Merk dir diese Worte, Ludlow. Die Menschen glauben, was sie lesen, gleichgültig, wie viel Wahrheit das Geschriebene enthalten mag.«
Joe hielt das Buch hoch und sagte leise: »Die Berichte, die wir hier haben, bedeuten ihrem jeweiligen Besitzer sehr vielund können folglich von finanziellem Nutzen für andere sein. Die Leute haben sich mir anvertraut und mir ihre größten Geheimnisse gestanden – es ist meine Pflicht, sie gut zu hüten. Wohin ich auch komme, es gibt überall verbrecherische Elemente, die viel Geld für dieses Buch bezahlen und es zu ihrer finanziellen Bereicherung oder Schlimmerem verwenden würden. Doch diese Geständnisse, Ludlow, sind allein uns anvertraut, deshalb dürfen wir niemals außerhalb dieses Zimmers darüber sprechen.«
Joe schien mich nicht zu diesen verbrecherischen Elementen zu rechnen. Und ausgerechnet in diesem Moment spürte meine Hand etwas Kaltes in der Tasche. Mein Herz machte einen Hüpfer. Die Uhren. Ich hatte sie immer noch. Anscheinend war Joe ihr Verschwinden noch nicht aufgefallen. Ich beschloss, sie so bald wie möglich an ihren Platz zurückzulegen.
Ich nickte ernst. »Ich kann ein Geheimnis für mich behalten«, erklärte ich.
»Das glaube ich dir, Ludlow. Aber ich kenne auch die menschliche Natur. Versuchung ist ein Fluch, der auf allen Menschen lastet.«
»Ich kann es«, sagte ich unbeirrt. »Gebt mir eine Chance.«
Einen Augenblick lang dachte ich, er würde Nein sagen, aber er lachte nur und sagte: »Was wäre das Leben, wenn man nicht ab und zu ein Risiko einginge? Ich kannte mal einen, der traf seine Entscheidungen allein durch das Werfen einer Münze. Sollte er aufstehen oder im Bett liegen bleiben? Er warf eine Münze. Sollte er essen oder nicht? Er warf eine Münze. Das ging fast zwei Jahre so, dann wurde er eines Tageskrank. Er warf also eine Münze, um zu entscheiden, ob er nach einem Arzt schicken sollte oder lieber nicht. Die Münze sagte Ja.«
»Und er wurde geheilt?«
»Nun, unglücklicherweise war der Arzt nicht gerade der beste. Seine Diagnose war mehr falsch als richtig, und die Arznei, die er ihm gab, viel zu stark. Der arme Kerl starb am nächsten Tag.«
Ich begriff nicht, was Joe mir damit sagen wollte.
»Verstehst du, Ludlow«, erklärte er, »das Leben ist ein Spiel, ganz gleich, wie du es spielst. Aber nun, wo waren wir stehen geblieben?« Er klopfte auf das Schwarze Buch der Geheimnisse und schlug einen ernsteren Ton an. »Natürlich gibt es ein paar Dinge, die du wissen musst, wenn du für mich arbeiten willst. Erstens, wir beginnen stets auf einer neuen Seite. Ich habe es mir zur Regel gemacht, vorauszublicken, nicht zurück.« Er lächelte vielsagend und sah mir in die Augen. Er wusste genau, dass ich in dem Buch geblättert hatte.
»Und zweitens, wenn alles niedergeschrieben ist, müssen wir das Buch so aufbewahren, dass es vor neugierigen Blicken geschützt ist.«
Ich beobachtete, wie er das Buch an keinen sichereren Platz als unter seine Matratze schob. Sollte das eine Art Probe sein? Wollte er mich in Versuchung führen, es zu stehlen?
Während ich noch hinschaute, stellte er mir eine sonderbare Frage.
»Glaubst du an das Glück, Ludlow?«
Darüber hatte ich in meinem Leben schon mehr als einmalnachgedacht. »Ich glaube, manche Menschen haben einfach mehr Glück als andere. Zum Beispiel die, die nicht in der Stadt zur Welt kommen.«
Joe lachte. »Ah, ja«, sagte er, »ein höchst unseliger Geburtsort. Die meisten, die dort geboren werden, sterben auch dort. Dir aber ist es gelungen, herauszukommen.«
»Dann habe ich also Glück gehabt.«
Joe zog die Schultern hoch. »Vielleicht ist es nicht nur Glück. Möglicherweise war es das Schicksal selbst, das dich zu mir geführt hat.«
»Schicksal? Schon eher meine beiden Füße!« Dann fragte ich ihn: »Woran glaubt Ihr? An Glück oder an Schicksal?«
Joe dachte eine Weile nach, bevor er antwortete. »Für unser Glück können wir selbst etwas tun, Ludlow. Durch unser Handeln und durch unsere Einstellung. Und damit nehmen wir Einfluss auf unser Schicksal. Gewiss ist nur eins: Dem Grab kann keiner von uns entrinnen.«
Dann überraschte er mich ein zweites Mal, indem er mir einen Shilling gab.
»Für eine gewissenhaft ausgeführte Arbeit. Steck es zu den anderen Münzen in deinem Beutel«, sagte er augenzwinkernd.
Kurz darauf gingen wir zu Bett. Als ich Joe
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