Das schwarze Buch der Geheimnisse (German Edition)
ich mich umdrehte, sah ich Pas verzerrtes Gesicht und Bartons gekrümmte Zange im gelben Licht der Gaslampen glitzern.
Beim Rennen überlegte ich fieberhaft, wohin ich mich wenden sollte. Sie kannten so viele meiner Versteckplätze. Schließlich entschloss ich mich für Mr Jellico, doch als ich sein Geschäft erreicht hatte, war alles dunkel und der Laden heruntergelassen. Ich hämmerte ans Fenster und rief seinen Namen, aber niemand antwortete. Ich verfluchte mein Pech. Wenn Mr Jellico zu dieser Nachtzeit nicht zu Hause war, würde er tagelang nicht zurückkehren, das wusste ich. Doch das nützte mir in meiner gegenwärtigen Notlage wenig.
Wohin also jetzt? Die Brücke über den Fluss Foedus und das Wirtshaus Zum Flinken Finger . Vielleicht würde mir Betty Peggotty, die Wirtin, helfen. Doch als ich aus der Gasse herauskam, warteten sie schon auf mich.
»Da! Da isser!«, kreischte Ma, und weiter ging die wilde Jagd. Das Durchhaltevermögen der drei überraschte mich, besonders Pa hätte ich das nicht zugetraut. Sie verfolgten mich mindestens eine halbe Meile weit durch ungepflasterte schmale Gassen und morastige Straßen bis zum Fluss. Sie stolperten über am Boden liegende Körper und wichen Händen aus, die nach ihnen griffen. Immer, wenn ich zurückblickte, schienen sie näher gekommen. Ich wusste, was passieren würde, falls sie mich noch einmal in die Finger bekämen. Der Schmerz in meinem blutenden Kiefer sagte es mir deutlich genug.
Als ich schließlich auf die Brücke wankte, konnte ich mich kaum mehr aufrecht halten. Vor dem Flinken Finger sah ich eine Kutsche stehen, und als ihre Räder schon anrollten, klammerte ich mich mit letzter Kraft an die Rückwand und hielt mich verzweifelt fest. Die Kutsche fuhr allmählich schneller, und das Letzte, woran ich mich erinnern kann, ist Ma, wie sie auf die Knie sank. Sie schrie mir vom Flussufer aus nach, und der Unhold Barton Gumbroot schüttelte wütend die Faust.
Ich heiße Ludlow Fitch. Wie zahllose andere Menschen hatte ich das große Pech, in der Stadt geboren zu sein – einer stinkenden Stadt, nicht wert, dass man ihren Namen nennt. Und wenn Ma und Pa nicht gewesen wären, wäre ich dort auch gestorben. Sie waren meine Rettung, obwohl das ganz und gar nicht in ihrer Absicht lag, als sie mich, ihren einzigen Sohn, an Barton Gumbroot auslieferten. Vielleicht war aber gerade dieser Verrat der größte Glücksfall in meinem Leben, denn der teuflische Plan meiner Eltern bedeutete für mich das Ende des einen und den Beginn eines anderen Daseins: meines Lebens mit Joe Zabbidou.
Kapitel 2
Fragment aus den
Erinnerungen des Ludlow Fitch
I ch hatte mich an die Kutsche eines gewissen Mr Jeremiah Ratchet gehängt, der sogar persönlich darin saß, aber das wusste ich damals noch nicht. Stundenlang rumpelten wir dahin, er im Innern der Kutsche schnarchend wie ein Blasebalg, so laut, dass ich es über das Rattern der Räder hören konnte, und ich, der ich mich von außen festklammerte wie das Äffchen eines Drehorgelmannes. Das Wetter wurde schlechter und es begann zu schneien. Die Straße verengte sich und die Schlaglöcher wurden immer größer, tiefer und häufiger. Der Kutscher machte sich keine Gedanken um die Bequemlichkeit seiner Reisegäste. Wären nicht meine Hände so gut wie festgefroren gewesen, hätte ich leicht herunterfallen können. Trotz dieser misslichen Lage und obwohl mein Magen rebellierte (ich leide schwer an Reisekrankheit), war ich gegen Ende der Fahrt eingedöst. Die Kutsche fuhr einen steilen Berg hinauf, und endlich erreichten wir den Ort, der für die nächste Zeit mein Zuhause werden sollte: das Bergdorf Pagus Parvus.
Unter anderen Umständen hätte ich nie beschlossen, nach Pagus Parvus zu kommen, aber es lag ja von Anfang an nicht in meiner Hand, mein Reiseziel zu bestimmen. Die Kutsche hielt vor einem großen Haus und der Fahrer stieg vom Bock. Ich hörte ihn an den Kutschenschlag klopfen.
»Mr Ratchet«, rief er. »Mr Ratchet!«
Da er keine Antwort bekam, ging er zum Haus und klingelte nach dem Dienstmädchen. Ein junges Mädchen kam heraus, sie schien nicht sehr erfreut. Der Kutscher nannte sie Polly. Gemeinsam schleppten sie Ratchet die Eingangstreppe hinauf – begleitet von lautem Schnarchen (Ratchets) und schwerem Stöhnen (Pollys und des Kutschers) – und beförderten ihn ins Haus. Diese Gelegenheit ergriff ich, um abzuspringen und einen raschen Blick ins Innere der Kutsche zu werfen. Ich fand einen ledernen
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