Das schwarze Buch der Geheimnisse (German Edition)
warf Ludlow seinen warmen Umhang zu, und der Junge rollte sich in der Nische neben dem Kamin zusammen. Noch nie hatte er einen so weichen Pelz gefühlt, er wickelte sich fast wie von selbst um seine Beine. Durch halb geschlossene Augen beobachtete Ludlow, wie Joe sich auf dem Bett gegenüber niederließ, und hörte ihn schon schnarchen, bevor seine Beine ganz ausgestreckt waren. Als Ludlow sicher war, dass Joe fest schlief, zog er den Geldbeutel hervor, den er in der Kutsche gestohlen hatte, und versteckte ihn hinter einem losen Mauerstein in der Wand. Dann nahm er das Papier und las noch einmal, was er geschrieben hatte:
Mein Name ist Joe Zabbidou. Ich bin der Geheimnis-Pfandleiher.
Geheimnis-Pfandleiher?, dachte Ludlow. Was mochte das für ein Beruf sein? Aber lange dachte er nicht darüber nach, denn bald schlief er ein und träumte wilde Dinge, die sein Herz rasen ließen.
Kapitel 5
Fragment aus den
Erinnerungen des Ludlow Fitch
E igentlich hatte ich Joe gar nicht erzählen wollen, dass ich ein Taschendieb war, keine Ahnung, warum ich ihm die Wahrheit verraten habe. Was Pfandleiher angeht, so wusste ich natürlich Bescheid über sie und ihr Gewerbe. Oft genug bin ich in ihren Läden ein und aus gegangen, als ich noch in der Stadt lebte. Was Ma und Pa zusammenklauten und selber nicht brauchen konnten, versetzten sie bei Pfandleihern. Oder sie schickten mich hin. Pfandleihhäuser gab es so ziemlich an jeder Ecke und sie hatten zu jeder Zeit geöffnet. Nach dem Wochenende, wenn alle ihren Lohn in Bier umgesetzt oder das Geld beim Kartenspielen verloren hatten, war dort am meisten los. An Montagvormittagen, das könnt ihr mir glauben, bot das Schaufenster eines Pfandleihhauses einen sehenswerten Anblick. Alles Mögliche hatten die Leute angeschleppt: Hemden, alte Schuhe, Pfeifen, Geschirr – alles, was vielleicht einen halben Penny einbringen könnte.
Der Pfandleiher nahm aber längst nicht alles. Er zahlte auch nicht viel, doch wenn sich jemand beschwerte, sagte er nur:»Ich bin kein Wohltätigkeitsverein. Entweder du gehst drauf ein oder du lässt’s bleiben.«
Und gewöhnlich nahmen sie sein Angebot an, weil ihnen nichts anderes übrig blieb. Was man verpfändet hatte, konnte man natürlich jederzeit zurückkaufen, aber dann musste man mehr dafür hinlegen, als man bekommen hatte. Auf diese Weise verdiente ein Pfandleiher seinen Lebensunterhalt – er bereicherte sich auf Kosten der Armen.
Lembart Jellico aber war nicht so wie die anderen. Das sah man schon daran, dass sein Laden in einem versteckten Seitengässchen der Pledge Street lag. Finden konnte ihn nur, wer ihn schon kannte, wenn ihr versteht, was ich meine. Ich selbst hatte ihn zufällig gefunden, als ich wieder einmal auf der Suche nach einem Versteck vor Ma und Pa gewesen war. Die Einmündung des Seitengässchens war so schmal, dass ich mich seitwärts hineinschieben musste. Wenn man emporschaut, kann man dort nur ein Stückchen des verqualmten Stadthimmels sehen. Mr Jellicos Laden war am Ende des Gässchens, und zuerst dachte ich, er sei geschlossen, doch als ich meine Nase gegen die Tür drückte, gab sie nach. Der Pfandleiher stand hinter seinem Ladentisch, aber er sah mich nicht. Er schaute vor sich hin, als träumte er am helllichten Tag.
Ich hustete.
»Entschuldige«, sagte der Mann blinzelnd. »Wie kann ich dir helfen, mein Junge?« Das waren die ersten freundlichen Worte, die ich an diesem Tag hörte. Ich gab ihm, was ich hatte: einen Ring, den ich einer Dame vom Finger gestreift hatte. (Es war eine meiner besonderen Fähigkeiten, einenunseligen Passanten mit meinem traurigen Blick zu betören und ihn zugleich von der Last seiner Juwelen zu befreien.) Mr Jellicos Augenbrauen hoben sich, als er das Schmuckstück sah.
»Er gehört wohl deiner Mutter?«, sagte er, drängte aber nicht auf eine Antwort.
Mr Jellico sah genauso arm aus wie seine Kunden. Er trug Sachen, die nie zurückgekauft worden waren (und die auch sonst keiner haben wollte). Seine Haut war bleich, weil er nie an die Sonne kam, und sie glänzte ein wenig wie feuchter Teig. Seine langen Fingernägel waren meistens schwarz, und auf seinem zerfurchten Gesicht sprossen graue Stoppeln. Immer hing ein Tropfen an seiner Nasenspitze, und ab und zu wischte er ihn mit dem roten Taschentuch weg, das in seiner Westentasche steckte. Für den Ring gab er mir damals einen Shilling, und so brachte ich ihm am nächsten Tag mehr von meiner Beute und bekam einen zweiten Shilling.
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