Das schwarze Buch der Geheimnisse (German Edition)
können. Aber ich hatte nicht mit dem Schuldgefühl gerechnet, das mich verzehrte – und auch nicht mit Jeremiah Ratchet.
Nach ein paar Tagen stattete er mir einen Besuch ab. Ich hatte ihn seit dem Abend des verhängnisvollen Essens nicht mehr gesehen. Er war weiß wie ein Blatt, das noch nie die Sonne gesehen hat, und seine blutunterlaufenen Augen lagen tief in den Höhlen.
»Mit dir habe ich ein Hühnchen zu rupfen«, sagte er streng. »Oder soll ich sagen ›ein Füßchen‹?« Er streckte die Hand aus und darin lag ein winziger, aber gut erkennbarer Zeh einer Ratte.
»Das habe ich zwischen meinen Zähnen gefunden«, sagte er. »Und zwar nach dem Essen, das du uns serviert hast. Diese Pastete, nach der mir die letzten drei Tage hundeelend war. Dieselbe Pastete, an der dein Vater gestorben ist. Wie ich sehe, hast du ihn ja ziemlich schnell unter die Erde gebracht.«
Mir stand fast das Herz still, aber ich zwang mich zu stottern: »W-Wie meint Ihr das, Mr Ratchet? Wenn mein Vater an der P-Pastete gestorben wäre, warum seid Ihr dann noch g-gesund und munter?«
Ratchet sah mich aus schmalen Augen an. »Offenbar habe ich von der vergifteten Ratte nicht so viel erwischt wie er.«
Er beugte sich über den Ladentisch, sodass ich seinen üblen Atem riechen konnte.
»Dich werde ich im Auge behalten«, sagte er.
Damit ging er, aber nicht ohne sich noch ein paar schöne Steaks und ein Stück Hammelfleisch zu nehmen. Die Pastetenließ er links liegen. Und weil ich es ihm nicht verwehrte, wusste Jeremiah, dass er recht hatte.
Was ist das Schicksal für ein grausames, launisches Weib: Den einen tötet es, doch den anderen lässt es am Leben, damit er mich peinigen kann. Ratchet kommt regelmäßig jede Woche und nimmt sich, was ihm gefällt. Eine Gans oder auch zwei, einen Fasan, ein Stück Rindfleisch. Wie lange wird er damit zufrieden sein? Was passiert mit mir, wenn er alles erzählt? Ich weiß, dass ich falsch gehandelt habe, aber muss ich deshalb für den Rest meines Lebens leiden? Gibt es denn nie ein Ende dieser Qual? Ich bin nicht etwa ein Mensch ohne Gewissen, ich schäme mich meiner Tat zutiefst, aber ich weiß nicht, wie lange ich diese Last noch tragen kann. Seit dem Tag, an dem mein Vater beerdigt wurde, habe ich keine Nacht mehr ruhig geschlafen.
Ludlow legte die Feder weg, schob einen Bogen Löschpapier zwischen die Seiten und klappte das Buch zu.
»Ich kann Euch Linderung verschaffen«, sagte Joe und sah in Horatios unstete Augen. »Euer Geheimnis ist gut aufgehoben in meinem Buch, das schwöre ich Euch.«
Horatio seufzte tief, und langsam verschwanden die Falten auf seiner Stirn. Sein Blick hellte sich auf und er gähnte herzhaft.
»Ich fühle mich schon besser.« Er erhob sich, zögerte aber, die Münzen anzunehmen, die Joe ihm gab – eine große Summe.
»Ich habe das Gefühl, Mr Zabbidou, dass eher ich Euch bezahlen sollte!«
Joe schüttelte den Kopf. »Keineswegs, Mr Cleaver. Es ist ein ehrlicher Handel.«
»Also gut«, sagte Horatio und ging zur Tür, wo er einen Augenblick stehen blieb. »Ich habe geschworen, nie wieder eine Kleintierpastete zu machen, aber ich kann nicht leugnen, dass es mich an manchen Tagen in den Fingern juckt. Jedes Mal, wenn Jeremiah Ratchet hereinstolziert kommt und so tut, als ob ihm mein Laden gehört, wenn er mit seinen vornehmen Kleidern protzt und wie eine ganze Parfümerie stinkt, also dann würde ich zu gern noch mal was ganz Besonderes für ihn zusammenmischen.«
»Der Tag wird kommen, da Ihr nicht länger unter diesem Mann zu leiden haben werdet«, sagte Joe. »Ratchet wird bekommen, was ihm zusteht. Habt Geduld.«
Er brachte Horatio zur Tür, und Ludlow blieb schweigend am Tisch sitzen. Horatios Geschichte hatte ihn an Dinge erinnert, die er lieber vergessen würde. Ludlow wusste, wie es war, einen gewalttätigen Vater zu haben. Was für ein Unglück für Horatio, als Sohn eines solchen Mannes geboren zu sein! Aber hieß das, dass er von Geburt an dazu ausersehen war, ihn zu ermorden?
Joe sah Horatio nach, der die Straße zur Fleischerei hinunterging. Er wartete, bis er ihn im Laden verschwinden sah und bis oben das Licht gelöscht wurde. Er lächelte. Horatio würde heute Nacht schlafen. Aber es gab andere, die konnten es nicht.
Kapitel 19
Eine unruhige Nacht
W ährend Joe den Klagen der Dorfleute zuhörte, lag auf halbem Weg hangabwärts Jeremiah Ratchet hellwach in seinem Bett. Vor Joes Ankunft war in Jeremiahs Haus selten ein Licht nach
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