Das schwarze Buch der Geheimnisse (German Edition)
Mitternacht zu sehen gewesen. Ein Mensch ohne Gewissen schläft für gewöhnlich tief und fest, und Jeremiah schnarchte stundenlang und so laut, dass selbst Polly in ihrem Dachzimmer kein Auge zubekam. Der Umstand, dass Jeremiah die Hauptursache all der Schlaflosigkeit in Pagus Parvus war, konnte seinen eigenen Schlaf jedenfalls nicht trüben.
Seit Kurzem aber wälzte er sich jede Nacht unruhig im Bett hin und her. Er rief zu unchristlichen Zeiten nach Polly und verlangte etwas Warmes zu trinken, ein Buch zum Lesen oder frische Glut für seinen Bettwärmer. Aber nichts half. Der Schlaf kam nicht.
Jeremiah Ratchet wohnte in der Mitte des Dorfes in einem Haus, das fünfmal so groß war wie die Häuschen, die er an seine unglückseligen Pächter vermietete. Im Lauf vieler Jahre hatte er es mit allen möglichen Kostbarkeiten angefüllt, doch am Ende war es mit seiner Einrichtung wie mit seiner Kleidung: zu schrill, zu aufdringlich, alles in allem kein schöner Anblick. Das Haus hatte sieben Schlafzimmer (obwohl er noch nie einen Gast über Nacht eingeladen hatte), ein herrliches Speisezimmer, in dem von einer großen Küche aus aufgetragen wurde (an den meisten Abenden aß er aber allein da). Es gab auf dem Dachboden Platz für fünf Dienstboten, aber aus angeborenem Geiz beschäftigte er nur zwei: Polly und einen Jungen, der die Pferde versorgte, aber der schlief im Heu.
Mit großem Vergnügen pflegte Jeremiah, selbstgefällig die Hände hinter dem Rücken verschränkt, die muffigen, düsteren Gänge seines Hauses abzuschreiten. Dabei betrachtete er die Porträts an den Wänden: Sieben Generationen Ratchets sahen mit kalten Augen und spöttisch gekräuselten Lippen auf ihn herunter. Er bewunderte den Schimmer auf seinem Silberzeug und schwelgte im Luxus seiner importierten Teppiche – handgeknüpft von Teppichwebern in einer afrikanischen Wüste. Manchmal, wenn er seine Finger in ihrem Flor vergrub, bildete er sich ein, er könne die Sandkörnchen unter den Nägeln spüren. Eine Einbildung, die sogar Wirklichkeit war: Pollys Reinlichkeit ließ zu wünschen übrig.
So war das, bevor Joe Zabbidou ins Dorf kam.
Joe hatte Jeremiah gleich vom ersten Morgen an aus der Fassung gebracht. Obwohl er seitdem nicht mehr zum Pfandleihhaus hinaufgegangen war, jedenfalls nicht bei Tageslicht, wusste Ratchet genau, was im Schaufenster lag. Er hatte Polly angewiesen, regelmäßig hinzugehen – das Geschäft jedoch nicht zu betreten – und ihm die ausgestellten Sachen in allen Einzelheiten zu beschreiben.
»Zersprungene Nachttöpfe und alte Stiefel!«, rief Jeremiah. »Wie kann ein Mensch auf diese Art und Weise Geld verdienen? Er muss ein Narr sein!«
Schon seit Generationen hatte die Familie Ratchet in Pagus Parvus ihren Nutzen aus den Armen im Dorf gezogen. Diese Tradition hatte Jeremiah mit List, Zwang und ererbter Falschheit fortgesetzt. Er hatte Häuser und Grundstücke erworben und vermietete beides an die Dorfleute für Summen, die nur als kriminell zu bezeichnen waren. In regelmäßigen Abständen setzte er sie auf die Straße, um ihnen zu beweisen, dass er es ernst meinte, kurz darauf ließ er sie wieder einziehen und presste ihnen das Einverständnis ab, dass sie ihm von nun an noch mehr Miete schuldeten. Obadiah war nicht der Einzige, der in diese Schuldenfalle geraten war, und auf diese Weise wuchs Jeremiahs Wohlstand.
Seiner Meinung nach war dieser Reichtum allein auf seine Begabung als Geschäftsmann zurückzuführen. Natürlich ist es nicht schwer, ein geschickter Geschäftsmann zu sein, wenn es keine Konkurrenz gibt. Allmählich aber ahnte Jeremiah, dass Joe der Rivale sein könnte, den er bisher nicht gehabt hatte. Dummerweise war Joes Laden nicht sein Eigentum, ein Umstand, der ihn sehr verärgerte. Was ihn aber noch mehr wurmte, war Joes offensichtlicher Reichtum. Er hatte sich persönlich davon überzeugt, dass es nur das Geld war, das Joe zu seiner herausgehobenen Stellung verhalf – besonders sein freigiebiger Umgang damit. Das durfte so nicht weitergehen. Zwei Wochen nachdem der Pfandleiher seinen Laden eröffnet hatte, musste Jeremiah verblüfft feststellen, dass das Leihhausimmer noch existierte. Und nach der Zahl von Leuten zu schließen, die auf ihrem Weg den Berg hinauf an Jeremiahs Haus vorbeikamen, blühte das närrische Gewerbe mit Nachttöpfen und alten Stiefeln sogar.
Jeremiah hatte sich grün und blau geärgert, als kürzlich Obadiah Strang auf der Straße auf ihn zugekommen war, einen
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