Das schwarze Buch der Geheimnisse (German Edition)
der vor dem Fenster spioniert.«
Joe meinte nicht mich. Ich erinnerte mich, dass er mir nach Dr. Mouldereds Besuch gesagt hatte, er sei überzeugt, dass jemand draußen gelauscht habe. Doch im Augenblick war ich mehr an Ratchet interessiert. »Warum unternehmt Ihr nichts gegen ihn?«, drängte ich. »Ist es wirklich so unverständlich, wenn Euch die Dorfleute darum bitten?«
Joe seufzte. »Du musst Geduld haben, Ludlow.«
»Warum? Worauf warten wir? Kennt Ihr etwa die Zukunft?«
Das schien ihn zu belustigen. »Hast du meine Kristallkugel schon gesehen?«, fragte er. »Wenn ja, würde ich gern wissen,wo sie ist.« Er lachte halbwegs, aber dann wurde er gleich wieder ernst.
»Ich bin kein Seher, Ludlow, glaub mir. Wenn ich einer wäre, meinst du, dann würde ich das hier tun?« Er machte eine Handbewegung, die den ganzen Laden umfasste.
Diesmal wollte ich ihn nicht so leicht vom Haken lassen. »Was genau habt Ihr vor, Joe? Wer seid Ihr? Warum seid Ihr hierhergekommen?«
Er lehnte sich an den Ladentisch und streckte seine langen Beine vor sich aus. »Ich bin nur ein alter Mann, Ludlow, der versucht, Menschen in Not zu helfen.«
»Aber das Buch, das Geld. Ihr gebt immerzu. Was bekommt Ihr zurück?«
»Es muss nicht immer darum gehen, dass man etwas zurückbekommt. Meinst du nicht, es ist genug, wenn man etwas gibt? Warum soll ich dafür eine Gegenleistung erwarten?«
Es war nicht leicht, und doch fing ich langsam an zu begreifen. Wahrscheinlich war ich in meinem Herzen immer noch ein Dieb. Während meines ganzen Lebens in der Stadt war es darauf angekommen, mir etwas zu verschaffen und für mich selbst zu sorgen.
»Du hast ihre Gesichter gesehen«, fuhr Joe fort. »Du weißt, wie ihnen zumute ist, wenn sie um Mitternacht kommen, und mit welchem Gefühl sie wieder gehen. Warum sollte ich mehr verlangen?«
»Aber sie verlangen mehr«, sagte ich.
»Und das, Ludlow, ist genau mein Problem.« Er machte auf dem Absatz kehrt und ging in den hinteren Raum. Ich folgteihm. Er zog unter der Matratze das Schwarze Buch hervor und blieb mit suchendem Blick neben seinem Bett stehen.
»Ich habe nachgedacht«, sagte er. »Vielleicht sollten wir das Buch an einer anderen Stelle aufbewahren.«
Mir fiel nichts Geeigneteres ein. Für eine Auswahl an Versteckplätzen war der Raum nicht groß genug.
»Aha«, rief er nach einer Weile. »Ich weiß auch schon, wo. Dort kannst du es immer im Auge behalten.« Er bückte sich und schob das Buch unter meinen Strohsack.
Ich war tief betroffen, aber ich bemühte mich, es nicht zu zeigen. »Meint Ihr, da ist es sicher?«
»In deinen Händen?«, sagte Joe augenzwinkernd. »Aber gewiss. Und wenn wir nun schon von Büchern sprechen, da gibt es eins, das ich gern haben möchte. Komm mit.«
Und so gingen wir zu Perigoe Leafbinder.
Kapitel 28
Perigoe Leafbinder
P erigoe Leafbinder war seit mehr als dreißig Jahren im Buchgewerbe tätig, und daran erinnerte sie gern, wenn jemand in ihren Laden kam. Sie wusste von jedem Buch, das gedruckt worden war, und sie verdiente ganz ordentlich, wenn auch nicht gerade durch die Einheimischen. Obwohl es an den dunklen Abenden außer Lesen kaum etwas anderes zu tun gab, hatten nur wenige sich diese Fähigkeit angeeignet. Perigoe unterhielt einen gut funktionierenden Zustelldienst und belieferte mit Pferd und Wagen den Norden der Stadt. Dort wohnten die Reichen und Müßigen, die Bücher nur kauften, um ihren Lebensstil und ihre geistige Überlegenheit zu zeigen. Perigoe hatte schon früh gelernt, dass es nicht schwer war, mit der Eitelkeit anderer Menschen Geld zu verdienen.
Sie war eine kleine Frau, fast eine Zwergin, mit vergrämtem Gesicht und schiefem Lächeln. In den vergangenen Monaten hatte sich an ihrem linken Auge ein lästiges Zucken ausgeprägt, das sich verstärkte, sobald sie nervös wurde. Leider war das ein Zustand, in dem sie sich meistens befand, und so kam es, dass sie fast ständig zwinkerte. Eine runde Brille saß auf ihren geblähten Nasenlöchern, die beinahe so aussahen, als wären sie eigens zum Tragen einer Brille geformt. Sie machten Brillenbügel überflüssig: Die Brille fiel auch dann nicht herunter, wenn sich Perigoe vorbeugte. Seit dem Tod ihres Mannes vor mehr als drei Jahren hatte sie sich angewöhnt, ausschließlich Schwarz zu tragen, und so war sie wegen ihrer geringen Größe und ihrer Kleidung im Halbdunkel ihres Buchladens oft kaum zu erkennen. Sie fand Vergnügen daran, aus dunklen Ecken aufzutauchen und
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