Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
heute ihr Sohn verschwunden ist, hat sie ganz durchgedreht. Ihr Mann musste sie in die Psychiatrie einliefern lassen.«
»Findest du nicht, dass sie einen ausgezeichneten Grund für einen Nervenzusammenbruch hatte?«
»Sie hat durchgedreht, bevor irgendjemand ihr von ihrem Sohn erzählt hatte. Ihr Mann glaubt, dass sie mit ASW begabt ist! Er sagt, dass sie die Morde vorausgesehen, dass sie gewusst hat, dass der Fisherman unterwegs war. Und sie hat gewusst, dass der Junge verschwunden war, bevor sein Fahrrad aufgefunden wurde – als Fred Marshall nach Hause gekommen ist, hat sie die Wände zerkratzt und Unsinn geredet. Völlig übergeschnappt.«
»Man hört von vielen Fällen, in denen eine Mutter plötzlich weiß, dass ihrem Kind irgendeine Gefahr oder Verletzung droht. Ein psychisches Band. Klingt wie Hokuspokus, scheint aber möglich zu sein.«
»Ich glaube nicht an Außersinnliche Wahrnehmung, und ich glaube nicht an Zufälle.«
»Worauf willst du also hinaus?« »Judy Marshall weiß irgendwas, und was sie weiß, wird eine echte Sensation sein. Fred kann’s nicht sehen – er steht ihr viel zu nahe -, und Dale kann’s ebenfalls nicht sehen. Du hättest hören sollen, wie er von ihr erzählt hat.«
»Und was soll sie wissen?« »Ich glaube, dass sie den Täter vielleicht kennt. Ich glaube, dass es jemand aus ihrem näheren Umfeld sein muss. Sie kennt seinen Namen, und das treibt sie zum Wahnsinn.«
Henry runzelt die Stirn und benützt seine spezielle Suchtechnik, um ein weiteres Stück Fleisch ausfindig zu machen. »Du fährst also hin, um sie zum Reden zu bringen«, sagt er schließlich.
»Ja. Im Prinzip.«
Auf diese Ankündigung folgt rätselhaftes Schweigen. Henry säbelt stumm ein Stück Fleisch ab, kaut, was er abgeschnitten hat, und spült es mit einem Schluck Cabernet hinunter.
»Wie war dein Engagement als DJ? Hat’s gut geklappt?«
»Es war herrlich. All die wundervollen alten Swinger haben auf der Tanzfläche losgelegt – sogar die im Rollstuhl. Nur ein Kerl hat mich ein bisschen genervt. Er war zu einer Frau namens Alice unverschämt und wollte, dass ich den Song ›Lady Magowan’s Nightmare‹ spiele, den es nicht gibt, wie du vielleicht weißt.«
»Er heißt ›Lady Magowan’s Dream‹. Woody Herman.«
»Bravo. Das Abstoßende an ihm war, dass er eine schreckliche Stimme hatte. Sie hat wie aus der Hölle geklungen! Jedenfalls hatte ich die Woody-Herman-Platte nicht dabei, und daraufhin hat er Bunny Berigans ›I Can’t Get Started‹ verlangt. Was zufällig Rhodas Lieblingssong gewesen ist. Wegen meiner verrückten akustischen Halluzinationen und allem anderen hat mich das durcheinander gebracht. Ich weiß selbst nicht, warum.«
Die beiden konzentrieren sich einige Minuten lang auf ihre Teller.
»Woran denkst du, Henry?«, sagt Jack schließlich.
Henry hält den Kopf schief, als hörte er einer inneren Stimme zu. Dann legt er stirnrunzelnd die Gabel beiseite. Die innere Stimme fordert Aufmerksamkeit. Er rückt seine Sonnenbrille zurecht und wendet sich an Jack. »Trotz allem, was du sagst, denkst du weiter wie ein Cop.«
Jack stemmt sich gegen den Verdacht, Henry mache ihm kein Kompliment. »Wie meinst du das?«
»Cops haben eine andere Sichtweise als Leute, die keine Cops sind. Betrachtet ein Cop jemanden, überlegt er sich, was der andere verbrochen haben mag. Dass jemand unschuldig sein könnte, kommt ihm überhaupt nicht in den Sinn. Für einen altgedienten Cop, der zehn oder mehr Dienstjahre auf dem Buckel hat, ist jeder schuldig, der kein Cop ist. Nur sind die meisten noch nicht geschnappt worden.«
Henry hat die Denkart von Dutzenden von Männern beschrieben, mit denen Jack früher zusammengearbeitet hat. »Henry, woher weißt du das?«
»Ich sehe es in ihren Augen«, sagt Henry. »So gehen Polizisten an die Welt heran. Du bist ein Polizist.«
»Ich bin ein Schutzmann«, stößt Jack hervor. Aus Entsetzen über sich selbst wird er rot. »Sorry, dieser dämliche Satz geht
mir seit einiger Zeit im Kopf herum; er ist mir einfach rausgerutscht.«
»Was hältst du davon, wenn wir das Geschirr abräumen, um endlich mit Bleak House anzufangen?«
Als ihr weniges Geschirr neben dem Ausguss gestapelt ist, nimmt Jack das Buch vom anderen Ende des Küchentischs, folgt Henry ins Wohnzimmer hinüber, bleibt im Vorbeigehen aber kurz stehen, um wie jedes Mal einen Blick ins Tonstudio seines Freundes zu werfen. Eine Tür mit einem großen Glasfenster führt in einen kleinen
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