Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
Schlucke, ein anerkennendes Gemurmel, dann liest Jack weiter. Esther, Esther, Esther, aber unter der Wasserfolter ihrer erbarmungslosen Fröhlichkeit kommt die Geschichte in Fahrt und schlägt Vorleser und Zuhörer gleichermaßen in ihren Bann.
Als Jack eine Stelle erreicht, an der die Lektüre sich gut unterbrechen lässt, schließt er das Buch und gähnt. Henry steht auf und reckt sich. Sie gehen zur Tür, und Henry folgt Jack unter einen weiten Nachthimmel hinaus, der mit hell leuchtenden Sternen übersät ist. »Eines würde mich noch interessieren«, sagt Henry.
»Was denn?«
»Hast du dich wirklich als Cop gefühlt, als du auf dem Revier warst? Oder ist’s dir vorgekommen, als würdest du nur einen spielen?«
»Das war wirklich etwas überraschend«, sagt Jack. »Ich habe mich fast sofort wieder als Cop gefühlt.«
»Gut.«
»Wieso ist das gut?«
»Weil es bedeutet, dass du auf dieses rätselhafte Geheimnis zugerannt bist, statt davor wegzulaufen.«
Jack schüttelt den Kopf und lächelt, gönnt Henry absichtlich nicht die Befriedigung einer Antwort, steigt in seinen Pickup und verabschiedet sich von der leichten, aber deutlichen Überhöhung des Fahrersitzes aus. Der Motor springt stotternd an und läuft dann rund, die Scheinwerfer flammen auf, und Jack ist nach Hause unterwegs.
9
Nur wenige Stunden später findet Jack sich unter einem grauen Herbsthimmel wieder, unter dem er auf der Hauptstraße eines verlassenen Vergnügungsparks unterwegs ist. Auf beiden Seiten stehen mit Brettern verschalte Buden: die Würstchenbude Fenway Franks, die Annie-Oakley-Schießbude, die Ballwurfbude. Es hat geregnet, und weiterer Regen steht bevor; die Luftfeuchtigkeit macht die Luft frisch. In nicht allzu gro ßer Entfernung kann er das einsame Donnern von Wogen hören, die gegen einen verlassenen Strandstreifen branden. Irgendwo aus der Nähe dringt lebhaftes Gitarrezupfen an sein Ohr. Es müsste fröhlich klingen, aber für Jack ist es das grässliche Gegenteil von Musik. Er sollte nicht hier sein. Dies ist ein alter Ort, ein gefährlicher Ort. Er kommt an einem mit Brettern verschalten Fahrgeschäft vorbei. Am Eingang verkündet ein Schild: DAS RASENDE OPOPANAX ERöFFNET AM MEMORIAL DAY 1982 WIEDER – BIS DANN, LEUTE!
Opopanax, denkt Jack, nur ist er nicht mehr Jack; jetzt ist er Jacky. Er ist Jacky-Boy, und seine Mutter und er sind auf der Flucht. Vor wem? Natürlich vor Sloat. Vor dem emsigen, umtriebigen Onkel Morgan.
Speedy, denkt Jack, und als hätte er ein telepathisches Stichwort geliefert, beginnt eine warme, leicht verwaschene Stimme zu singen: »When the red red robin comes bob bob bobbin’ along, / There will be no more sobbin’ when he starts throbbin’ his old sweet song …«
Nein, denkt Jack. Ich will dich nicht sehen. Ich will dein
altes sanftes Lied nicht hören. Du kannst ohnehin nicht hier sein; du bist tot. Du liegst tot auf der Santa Monica Pier. Ein alter, kahlköpfiger Schwarzer liegt tot im Schatten eines zur Leblosigkeit erstarrten Karussellpferds.
Aber das stimmt nicht. Wenn die alte Cop-Logik wiederkehrt, setzt sie sich selbst in Träumen wie ein Tumor fest, und man braucht nicht viel davon, um zu erkennen, dass das hier nicht Santa Monica ist – es ist zu kalt und zu alt. Das ist das Land der Vergangenheit, in dem Jacky und die Königin der B-Movies wie die Flüchtlinge, die sie tatsächlich waren, aus Kalifornien flüchteten. Und nicht eher Halt machten, bis sie die jenseitige Küste und den Ort erreichten, an den Lily Cavanaugh Sawyer …
Nein, daran denke ich nicht, daran denke ich nie
… gekommen war, um zu sterben.
»Wach auf, wach auf, du Schlafmütze!«
Die Stimme seines alten Freundes.
Freund, dass ich nicht lache! Er hat mich auf die Straße der Prüfungen geschickt; er hat sich zwischen mich und Richard, meinen einzigen wahren Freund, gedrängt. Durch seine Schuld wäre ich fast umgekommen; er hat mich fast zum Wahnsinn getrieben.
»Wach auf, wach auf, steh schon auf!«
Wach auf, wach auf, wach auf. Es wird Zeit, dem schrecklichen Opopanax gegenüberzutreten. Es wird Zeit, in deine nicht allzu herrliche Vergangenheit zurückzukehren.
»Nein«, flüstert Jack, und dann endet die Hauptstraße. Vor ihm steht das Karussell, entfernt wie das auf der Santa Monica Pier, entfernt wie das, an das er sich … nun, aus der Vergangenheit erinnert. Mit anderen Worten ist es eine Kreuzung, eine Traumspezialität, die weder hierhin noch dorthin gehört. Aber der Mann, der
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