Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
schalldichten Raum voller elektronischer Geräte: das Mikrofon und der Plattenspieler aus dem Maxton, die wieder vor Henrys gut gepolstertem Drehstuhl aufgebaut sind; gleich daneben ein CD-Wechsler mit dem dazugehörigen Digital-Analog-Konverter; ein Mischpult und ein riesiges Tonbandgerät nebeneinander unter dem zweiten, größeren Fenster, das in die Küche hinausführt. Damals, als Henry sein Tonstudio plante, hatte Rhoda auf diesem Fenster bestanden, weil sie, so sagte sie, ihn bei der Arbeit sehen können wolle. Nirgends ist ein Kabel zu sehen. Mit seiner disziplinierten Ordnung erinnert das gesamte Studio an die Kapitänskabine auf einem Schiff.
»Sieht so aus, als wolltest du heute noch arbeiten«, sagt Jack.
»Ich will zwei weitere Henry Shakes fertig stellen. Außerdem arbeite ich an einer Sendung zur Feier des Geburtstags von Lester Young und Charlie Parker.«
»Die haben am selben Tag Geburtstag?«
»Ziemlich dicht aufeinander. 27. und 29. August. Ich weiß nicht, ob du im Wohnzimmer überall Licht möchtest.«
»Am liebsten schon«, sagt Jack.
Also schaltet Henry Leyden die Lampen auf beiden Seiten des Fensters ein, während Jack Sawyer zu dem Sessel am Kamin geht, die große Stehlampe an einem ihrer geschwungenen Arme anknipst und dann beobachtet, wie sein Freund zielsicher zu der Wandlampe neben der Tür und dann zu der reich verzierten Art-déco-Lampe neben seinem eigenen liebsten Sitzmöbel, dem Sofa im Missionsstil, geht, die Lampen nacheinander anknipst und sich dann so aufs Sofa setzt, dass ein ausgestrecktes Bein der Länge nach auf den Sitzpolstern liegt. Eine
sanfte, gleichmäßige Helligkeit erfüllt den länglichen Raum und bildet nur um Jacks Sessel eine Insel aus hellerem Licht.
»Bleak House von Charles Dickens«, sagt Jack. Er räuspert sich. »Okay, Henry, jetzt geht’s los.«
»›London. Der Michaelistermin ist vorüber …‹«, liest er vor und marschiert in eine aus Ruß und Schmutz bestehende Welt. Schmutzige Hunde, schmutzige Pferde, schmutzige Menschen, ein Tag ohne Licht. Bald hat er den zweiten Absatz erreicht: »›Nebel überall. Nebel stromaufwärts, wo der Strom zwischen Buschwerk und Auen fließt; Nebel stromabwärts, wo er sich schmutzig zwischen Reihen von Schiffen und dem Uferunrat einer großen (und schmutzigen) Stadt hindurchwälzt. Nebel auf den Sümpfen von Essex und Nebel auf den Höhen von Kent. Nebel kriecht in die Kajüten der Kohlenschiffe; Nebel liegt draußen auf den Rahen und hängt in der Takelage gro ßer Schiffe; Nebel senkt sich auf die Schanzkleider von Lastkähnen und kleinen Booten …‹«
Die Stimme versagt ihm kurz, und er ist mit dem Kopf für einen Augenblick nicht mehr bei ihrer Lektüre. Was er da liest, erinnert ihn auf unglückliche Weise an French Landing, die Sumner Street und die Chase Street, die Lichter in den Fenstern des Oak Tree Inns, die in der Nailhouse Row lauernden Thunder Five und die graue vom Fluss heraufführende Straße, die Queen Street und die Hecke des Maxton, die an einem rechtwinkligen Straßensystem angeordneten kleinen Häuser – dies alles von einem unsichtbaren Nebel bedeckt, der am Highway ein verwittertes Schild mit der Aufschrift ZUTRITT VERBOTEN einhüllt, die Sand Bar verschluckt und hungrig und auf Beutesuche in die Täler hineingleitet.
»Entschuldigung«, sagt er. »Ich habe nur daran denken müssen, wie …«
»Ich auch«, sagt Henry. »Bitte weiter.«
Jack, der außer diesem Aufblitzen eines alten Zutritt-verboten-Schildes nicht das Geringste von dem schwarzen Haus ahnt, das er eines Tages wird betreten müssen, konzentriert sich wieder auf den Text und liest weiter vor. Die Fenster werden dunkler, das Lampenlicht erscheint wärmer. Vor Gericht geht der Prozess Jarndyce und Jarndyce von den Anwälten
Chizzle, Mizzle und Drizzle befördert oder behindert seinen schleppenden Gang; Lady Dedlock lässt Sir Leicester Dedlock auf ihrem großen Landsitz mit seiner moderigen Kapelle, dem über die Ufer getretenen Fluss und dem »Geisterweg« allein zurück; Esther Summerson beginnt in der Ichform zu plappern. Unsere Freunde beschließen, dass das Auftauchen Esthers eine kleine Erfrischung erfordert, wollen sie noch mehr von dem Geplapper durchstehen. Henry erhebt sich vom Sofa, gleitet in die Küche hinaus und kommt mit zwei niedrigen, dicken Gläsern, die zu einem Drittel mit Balvenie Double Wood Single-Malt-Whisky gefüllt sind, sowie einem Glas klarem Wasser für den Vorleser zurück. Einige kleine
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