Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
ebenso goldene Stimme in das kostbare Gerät spricht. (Wendell bedauert oft die Kurzsichtigkeit der hiesigen Radiostationen, die so viel Sendezeit an Dummköpfe wie George Rathbun und Henry Shake vergeuden, obwohl sie ein viel höheres Niveau erreichen könnten, wenn sie einfach ihn jeden Tag etwa eine Stunde lang die Nachrichten kommentieren ließen.) Ah, die herrliche Kombination aus Wendells Worten und Wendells Stimme – Edward R. Murrow, der Reporter, der während des Blitzkrieges aus London berichtete, hat selbst in seiner besten Zeit nie so eloquent, nie so volltönend geklungen.
Folgendes diktiert er unterwegs: Heute Morgen schloss ich mich einer regelrechten Karawane der Schockierten, der Trauernden und der nur Neugierigen an, die einen Trauerzug bildeten, der sich auf dem idyllischen Highway 35 nach Osten schlängelte. Nicht zum ersten Mal war der Verfasser dieser Zeilen erschüttert – zutiefst erschüttert – von dem immensen Gegensatz zwischen der lieblichen, friedlichen Landschaft im Coulee Country und den hässlichen, brutalen Verbrechen, die ein geistesgestörter Triebtäter in dieser unschuldigen Idylle verübt hat. Neuer Absatz.
Die Nachricht hatte wie ein Lauffeuer die Runde gemacht. Der Nachbar rief den Nachbarn, der Freund den Freund an. Laut einem morgens bei der Polizeistation French Landing
eingegangenem Notruf liegt die verstümmelte Leiche der kleinen Irma Freneau in den Ruinen von Ed’s Eats and Dawgs, einem ehemaligen Café mit Eisdiele. Und wer hatte dort angerufen? Doch gewiss ein pflichtbewusster Bürger? Keineswegs, meine Damen und Herrn, keineswegs …
Meine Damen und Herrn, dies ist Frontberichterstattung, hier wird die Nachricht geschrieben, während sie sich ereignet – eine Arbeitsweise, die dem erfahrenen Journalisten unbedingt »Pulitzer-Preis« zuflüstern muss. Diesen Knüller verdankte Wendell Green seinem Friseur Roy Royal, der ihn von seiner Frau Tillie hatte, die ihrerseits von Myrtle Harrington persönlich ins Vertrauen gezogen worden war. Wendell Green wusste, was er seinen Lesern schuldig war: Er griff sich sein Diktiergerät und seine Kamera und rannte zu seinem hässlichen kleinen Auto hinaus, ohne sich die Zeit zu nehmen, die Herald -Redaktion anzurufen. Er braucht keinen Fotografen; alle benötigten Aufnahmen kann er mit seiner zuverlässigen Nikon F2 machen, die jetzt auf dem Beifahrersitz liegt. Eine nahtlose Kombination aus Wort und Bild … eine scharfsinnige Untersuchung des grausigsten Verbrechens des neuen Jahrhunderts … eine gedankenreiche Erforschung des Wesens des Bösen … eine mitfühlende Schilderung der Leiden einer Kleinstadt … eine schonungslose Enthüllung der Unfähigkeit einer örtlichen Polizei …
Ist es verwunderlich, dass Wendell Green, dem dies alles durch den Kopf geht, während seine einschmeichelnden Worte nacheinander ins Mikrofon seines hochgehaltenen Diktiergeräts tropfen, weder das Donnern der Harleys noch das Näherkommen der Thunder Five wahrnimmt, bevor er auf der Suche nach dem perfekten Ausdruck zufällig zur Seite blickt? Er sieht also zur Seite und erkennt mit einem Anfall von Panik kaum einen Meter links neben sich Beezer St. Pierre, der auf seiner röhrenden Harley sitzt und seinen Lippenbewegungen nach anscheinend singt
singt
hä?
Nö, kann nicht sein. Nach Wendells Erfahrung flucht Beezer St. Pierre eher wie ein Seemann bei einer Schlägerei in einer
Hafenbar. Als Wendell nach Amy St. Pierres Tod lediglich altem Journalistenbrauch folgend im Haus Nailhouse Row Nr. 1 aufgekreuzt war und von dem trauernden Vater hatte wissen wollen, wie man sich fühle, wenn die eigene Tochter von einem Ungeheuer in Menschengestalt wie ein Schwein abgeschlachtet und teilweise verzehrt worden sei, hatte Beezer den unschuldigen Zeitungsmann an der Kehle gepackt, ihn mit einer Flut von Obszönitäten überschüttet und ihm abschließend angedroht, falls Mr. Green sich jemals wieder blicken lasse, werde er ihm den Kopf abreißen, um dann an dem Stumpf unbeschreibliche sexuelle Handlungen vorzunehmen.
Die Drohung von damals ruft Wendells kurzzeitige Panik hervor. Er wirft einen Blick in den Rückspiegel und sieht Beezers Kohorte wie ein einfallendes Gotenheer die Straße entlangbrausen. In seiner Einbildung schwingen sie Schädel an Seilen aus Menschenhaut und brüllen einander zu, was sie mit seinem Hals tun werden, nachdem sie ihm den Kopf abgerissen haben. Was immer er in sein kostbares Gerät diktieren wollte, verflüchtigt
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