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Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus

Titel: Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stephen;Straub King
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Abschiednehmen um sich, von unablässig angetretenen Reisen – diese Andeutung von Exkursionen, diese Ahnung von einem möglichen Woanders.

    »Ich sage ihr, dass wir da sind«, flüstert Fred und huscht ums Ende der Bank herum, um vor seiner Frau in die Hocke zu gehen. Sie beugt den Kopf bei unverändert aufrechtem Rückgrat nach vorn, als wollte sie auf die wirre Mischung aus Kummer, Liebe und Besorgnis antworten, die auf dem gut aussehendem Gesicht ihres Ehemanns brennt. Dunkelblondes Haar mit goldenen Glanzlichtern liegt flach an der mädchenhaften Rundung von Judy Marshalls Hinterkopf an. Hinter den Ohren sind Dutzende von verschiedenfarbigen Strähnen zu einem spinnwebförmigen Knoten verklumpt.
    »Wie fühlst du dich, Schatz?«, fragt Fred leise.
    »Es gelingt mir, mich zu amüsieren«, sagt sie. »Wirklich, Liebling, ich sollte wenigstens noch einige Zeit hier bleiben. Die Oberschwester ist davon überzeugt, dass ich absolut verrückt bin. Ist das nicht praktisch?«
    »Jack Sawyer ist hier. Möchtest du jetzt mit ihm reden?«
    Judy streckt eine Hand aus und tätschelt sein Knie. »Sag Mr. Sawyer, er möchte nach vorn kommen, und du setzt dich hier neben mich, Fred.«
    Jack tritt bereits vor und hat den Blick auf Judy Marshalls wieder erhobenen Kopf gerichtet, der sich ihm aber nicht zuwendet. Fred hat kniend ihre ausgestreckte Hand mit beiden Händen ergriffen, als wollte er sie jeden Moment küssen. In dieser Stellung erinnert er an einen liebeskranken Ritter, der seiner Königin huldigt. Als Fred ihre Hand an seine Wange drückt, sieht Jack die weißen Mullverbände an ihren Fingerspitzen. Judys Wangenknochen werden sichtbar, dann die Seite ihres ernsten, nicht lächelnden Mundes; dann ist ihr ganzes Profil sichtbar, scharf wie das Krachen des Eises am ersten Frühlingstag. Es ist das königliche, idealisierte Profil auf einer Kamee oder einer Münze: der leichte Aufwärtsbogen der Lippen, der klar definierte, wie gemeißelte Abwärtsschwung der Nase, die geschwungene Linie des Kinns, jeder Winkel in vollkommener, sanfter, eigenartig vertrauter Übereinstimmung mit dem Ganzen.
    Sie verschlägt ihm die Sprache, diese unerwartete Schönheit; für Bruchteile einer Sekunde hemmt sie ihn mit der tiefen, körnigen Nostalgie ihrer bruchstückhaften, nicht ganz fassbaren
Heraufbeschwörung eines anderen Gesichts. Grace Kelly? Cathérine Deneuve? Nein, keine dieser beiden; Jack begreift, dass Judys Profil ihn an eine Frau erinnert, der er erst noch begegnen muss.
    Dann ist der seltsame Augenblick vorüber: Fred Marshall steht auf, Judys Gesicht im Dreiviertelprofil verliert seine königliche Ausstrahlung, während sie beobachtet, wie ihr Mann sich neben sie auf die Bank setzt, und Jack verwirft, was ihm soeben zugestoßen ist, als Absurdität.
    Sie hebt den Blick nicht, bis er vor ihr steht. Ihr Haar ist glanzlos und verfilzt. Unter dem Krankenhausgewand trägt sie ein altes Nachthemd aus blauer Spitze, das schon unansehnlich gewesen sein muss, als es neu war. Trotz diesen Nachteilen ist er Judy Marshall in der Sekunde verfallen, in dem sein Blick ihrem begegnet.
    Ein von seinen Sehnerven ausgehender Stromstoß scheint durch ihn hindurch abwärts zu pulsieren, und Jack wird sich hilflos bewusst, dass sie die schönste, hinreißendste Frau sein muss, die er je in seinem Leben gesehen hat. Er befürchtet gleich, die Stärke seiner Reaktion auf sie könnte ihn umwerfen, dann – noch schlimmer! -, sie werde erkennen, was in ihm vorgeht, und ihn für einen Tölpel halten. Er wünscht sich verzweifelt, in ihren Augen nicht als Tölpel zu erscheinen. Brooke Greer, Claire Evinrude, Iliana Tedesco, so attraktiv jede von ihnen auf ihre eigene Art auch war, sehen neben ihr alle wie kleine Mädchen in Halloween-Kostümen aus. Judy Marshall verbannt seine ehemaligen Geliebten ins Regal; sie entlarvt sie als Spleens und Fantasieprodukte, von unechten Egos und hundert lähmenden Unsicherheiten durchsetzt. Judys Schönheit entsteht nicht vor einem Spiegel, sondern wächst mit atemberaubender Schlichtheit geradewegs aus ihrem innersten Wesen; was man sieht, ist nur der kleine, sichtbare Teil von weit gewichtigeren, weit umfassenderen, strahlenderen und ausgebildeteren Eigenschaften in ihrem Innersten.
    Jack kann kaum glauben, dass der liebenswerte, gutherzige Fred Marshall tatsächlich das fantastische Glück gehabt hat, diese Frau zu heiraten. Weiß er, wie großartig, wie buchstäblich wundervoll sie ist? Wäre sie ledig, würde

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