Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
bringen. Die Arbeit war interessant.«
»Und Sie haben gehofft, sie würde nie aufhören, interessant zu sein. Weil es immer ein neues Problem zu lösen, eine neue Frage zu beantworten geben würde.«
Sie hat mitten ins Schwarze getroffen, seine Motivation auf eine Weise begründet, die ihm bis dahin nicht bewusst war. »Ja, das stimmt.«
»Sie waren ein großer Detective, weil es – obwohl Sie das nicht wussten – etwas sehr Wichtiges gab, das Sie aufdecken mussten.«
Ich bin ein Schutzmann, erinnert Jack sich. Seine eigene dünne Stimme in der Nacht, die ihn von jenseits einer massiven Mauer ansprach.
»Etwas, das Sie um Ihres eigenen Seelenheils willen finden mussten.«
»Ja«, sagt Jack. Ihre Worte haben sein Innerstes getroffen, und ihm stehen plötzlich Tränen in den Augen. »Ich wollte immer irgendetwas Fehlendes aufspüren. Mein ganzes Leben war von der Suche nach einer geheimen Erklärung geprägt.«
Eine Erinnerung, die so deutlich wie ein Filmausschnitt ist, zeigt ihm einen großen zeltartigen Pavillon, einen weißen Raum, in dem eine schöne und ausgezehrte Königin im Sterben
liegt, und ein kleines Mädchen, zwei oder drei Jahre jünger als sein zwölfjähriges Ich, unter ihrem Gefolge.
»Haben Sie es Anderland genannt?«, fragt Judy.
»Ich habe es die Territorien genannt.« Indem er dieses Wort laut ausspricht, hat er das Gefühl, eine Truhe zu öffnen, welche Schätze enthält, die er sich endlich mit jemandem teilen kann.
»Das ist ein guter Name. Fred wird das zwar nicht verstehen, aber als ich heute Morgen auf meiner langen Wanderung war, habe ich gespürt, dass mein Sohn in Anderland ist – in Ihren Territorien also. Irgendwo verborgen, irgendwo versteckt. In großer Gefahr, aber noch lebendig und unversehrt. In einer Zelle. Auf dem Fußboden schlafend. Aber am Leben. Unverletzt. Halten Sie das für möglich, Mr. Sawyer?«
»Augenblick mal!«, sagt Fred. »Ich weiß, dass du das alles glaubst, und am liebsten möchte ich es auch glauben, aber wir reden hier von der realen Welt.«
»Ich glaube, dass es viele reale Welten gibt«, sagt Jack. »Und ja, ich glaube, dass Ty irgendwo in Anderland ist.«
»Können Sie ihn retten, Mr. Sawyer? Können Sie ihn uns zurückbringen?«
»Es wird so sein, wie Sie vorhin gesagt haben, Mrs. Marshall«, sagt Jack. »Dass ich hier bin, muss einen Grund haben.«
»Sawyer, ich kann nur hoffen, dass ich mit dem, was Sie mir nachher zeigen wollen, mehr anfangen kann als mit euch beiden«, sagt Fred. »Vorläufig müssen wir aber wohl Schluss machen. Der Dragoner ist im Anmarsch.«
Während sie vom Parkplatz des Krankenhauses herunterfahren, wirft Fred Marshall einen Blick auf den Aktenkoffer, der flach wie zuvor auf Jacks Schoß liegt, sagt aber nichts. Er schweigt weiter, bis sie wieder den Highway 93 erreichen, aber dann sagt er: »Ich bin froh, dass Sie mitgekommen sind.«
»Danke«, sagt Jack. »Das bin ich auch.«
»Also, ich fühle mich irgendwie überfordert, aber mich würde schon interessieren, wie Sie den Besuch beurteilen. Finden Sie, dass er gut gelaufen ist?«
»Das wäre untertrieben, würde ich sagen. Ihre Frau ist …
ich weiß gar nicht, wie ich sie beschreiben soll. Mir fehlen einfach die Worte, um auszudrücken, für wie wunderbar ich sie halte.«
Fred nickt, dann schielt er zu Jack hinüber. »Sie halten sie also nicht für übergeschnappt?«
»Wenn sie verrückt ist, wäre auch ich liebend gern so verrückt wie sie.«
Der zweispurige asphaltierte Highway, der sich vor ihnen erstreckt, führt steil den Hügel hinauf und scheint über dessen Rücken hinweg ins dimensionslose Blau des weiten Himmels weiterzuführen.
Noch ein misstrauischer Blick von Fred. »Und Sie haben dieses … diese Region , die Sie Anderland nennt, schon einmal gesehen?«
»Ja, das habe ich. So schwer das zu glauben ist.«
»Wirklich? Ohne Scheiß? Beim Grab Ihrer Mutter?«
»Beim Grab meiner Mutter.«
»Sie sind also dort gewesen. Und nicht nur im Traum, sondern wirklich dort gewesen?«
»In dem Sommer, als ich zwölf war.«
»Könnte ich auch dorthin?«
»Nein, vermutlich nicht«, sagt Jack. Das ist zwar nicht die Wahrheit, Fred könnte die Territorien sehr wohl besuchen, wenn Jack ihn mitnähme, aber er will diese Tür so fest wie möglich geschlossen halten. Er kann sich vorstellen, Judy Marshall in diese andere Welt mitzunehmen; bei Fred dagegen liegt der Fall anders. Judy hat sich eine Reise in die Territorien mehr als verdient, während
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