Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
niederzulassen, dass man nur sieben statt elf Ziffern wählen muss, um ihn telefonisch zu erreichen. Heute Abend kommt ihr das – man entschuldige die Witzelei – wie eine ziemlich gute Wahl vor.
»Beides«, sagt Dale, und dann fragt er, ohne seine Antwort zu erläutern oder Sarah Gelegenheit zu weiteren Fragen zu geben: »Wo ist Dave?«
»Am Küchentisch, mit seinen Wachsmalstiften.«
Mit seinen sechs Jahren genießt der junge David Gilbertson eine heftige Liebesaffäre mit Crayolas, von denen er in den Schulferien schon zwei Schachteln vermalt hat. Dale und Sarah hoffen stark – was sie einander aber nur im Schutz der Dunkelheit eingestehen, wenn sie vor dem Einschlafen Seite an Seite liegen -, dass sie vielleicht einen richtigen Künstler großziehen. Den nächsten Norman Rockwell, hat Sarah einmal gesagt. Dale – der Jack Sawyer geholfen hat, dessen eigenartig wundervolle Gemälde aufzuhängen – hegt größere Hoffnungen für seinen Jungen. Eigentlich zu groß, als dass er sie aussprechen könnte, nicht einmal im Ehebett, wenn das Licht ausgeknipst ist.
Mit dem Weinglas in der Hand schlendert Dale in die Küche hinaus. »Was malst du, Dave? Was …«
Er bleibt stehen. Die Wachsmalstifte liegen verlassen da. Auch das Bild – eine halb fertige Zeichnung, die eine fliegende Untertasse, vielleicht auch nur einen runden Couchtisch, darstellen könnte – liegt verlassen da.
Die Küchentür ins Freie steht offen.
Als Dale in das milchige Weiß hinausblickt, das Davids Schaukel und sein Klettergerüst verbirgt, fühlt er in der Kehle eine schreckliche Angst aufsteigen, die ihm den Hals zuschnürt. Er kann plötzlich wieder Irma Freneau riechen, hat wieder den grausigen Verwesungsgeruch in der Nase. Jegliches Gefühl, seine Familie lebe in einem geschützten Zauberkreis - es kann andere treffen, aber uns kann es nie, nie zustoßen -, ist schlagartig verflogen. An seine Stelle ist eine entsetzliche Gewissheit getreten: David ist fort. Der Fisherman hat ihn aus dem Haus gelockt und in den Nebel verschleppt. Dale sieht das Grinsen auf dem Gesicht des Fishermans vor sich. Er sieht
dessen behandschuhte Hand – sie ist gelb -, die den Mund seines Sohnes, aber nicht die ängstlich hervorquellenden Kinderaugen bedeckt.
In den Nebel und aus unserer Welt hinaus.
David.
Er stolpert auf Beinen, in denen Knochen und Nerven sich aufgelöst zu haben scheinen, durch die Küche. Er stellt sein Glas auf den Tisch, wobei der Fuß schräg auf einem Wachsmalstift zu stehen kommt, und merkt nicht, wie es umkippt und Davids halb fertige Zeichnung mit etwas tränkt, das grässlich an venöses Blut erinnert. Dann ist er zur Tür hinaus, und obwohl er laut rufen will, kommt seine Stimme nur als ein mattes, fast kraftloses Seufzen heraus: »David? … Dave?«
Einen Augenblick lang, der ihm wie ein Jahrtausend vorkommt, horcht er vergebens. Dann hört er die dumpfen Laute rennender Füße auf feuchtem Gras. Jeans und ein gestreiftes Sweatshirt tauchen aus der dicker werdenden Nebelsuppe auf. Im nächsten Augenblick sieht er das liebe, grinsende Gesicht und den blonden Haarschopf seines Sohnes.
»Dad! Daddy! Ich hab im Nebel geschaukelt! Das war wie in einer Wolke!«
Dale reißt ihn an sich. Er spürt einen schlimmen, blendenden Impuls, den Jungen zu ohrfeigen, ihm dafür weh zu tun, dass er seinen Vater so geängstigt hat. Aber der Impuls verschwindet so rasch, wie er gekommen ist. Stattdessen küsst er David.
»Ich weiß«, sagt er. »Das hat bestimmt Spaß gemacht, aber jetzt ist’s Zeit, ins Haus zu kommen.«
»Warum, Daddy?«
»Weil kleine Jungen sich manchmal im Nebel verlaufen«, sagt er und blickt in den weißen Garten hinaus. Er kann den Verandatisch sehen, aber nur schemenhaft; hätte er ihn nicht schon unzählige Male gesehen, wüsste er gar nicht, was dort steht. Er küsst seinen Sohn nochmals. »Kleine Jungen verlaufen sich manchmal«, wiederholt er.
Oh, wir könnten nach jeder Menge Freunde sehen, alten wie neuen. Fred Marshall und Jack sind aus Arden zurückgekehrt (keiner der beiden hat vorgeschlagen, in Gertie’s Kitchen in
Centralia einzukehren, als sie daran vorbeigefahren sind), und beide sind jetzt in ihren ansonsten verlassenen Häusern. Auf der restlichen Rückfahrt nach French Landing hat Fred die Baseballmütze seines Sohnes nicht mehr losgelassen; er hat sogar jetzt eine Hand auf ihr liegen, während er in seinem schmerzlich leeren Wohnzimmer ein TV-Dinner aus der Mikrowelle isst und die
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