Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
Fred noch immer außerstande ist, an ihre Existenz zu glauben. Judy würde sich dort drüben wie zu Hause fühlen, aber ihr Mann wäre für Jack wie ein Klotz am Bein, den er mit sich herumschleppen müsste – mit anderen Worten: ein zweiter Richard Sloat.
»Das habe ich mir fast schon gedacht«, sagt Fred. »Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich oben wieder kurz halten.«
»Gern«, sagt Jack.
Auf dem Hügelrücken überquert Fred die Gegenfahrbahn, um auf dem mit Kies bestreuten Rastplatz zu parken. Statt jedoch
auszusteigen, deutet er auf Jacks Aktenkoffer. »Haben Sie da drin das, was Sie mir zeigen wollen?«
»Ja«, sagt Jack. »Ich hätte es Ihnen schon früher gezeigt, aber nachdem wir bei der Herfahrt hier gehalten hatten, wollte ich erst einmal abwarten, was Judy zu sagen hatte. Und ich bin froh, dass ich’s getan habe. Vielleicht können Sie jetzt mehr damit anfangen, da Sie zumindest teilweise eine Erklärung dafür gehört haben, wie ich es gefunden habe.«
Jack lässt die Schlösser des Aktenkoffers aufschnappen, klappt den Deckel auf und nimmt aus dem mit hellem Leder gefütterten Inneren die Brewers-Mütze, die er am Morgen gefunden hat. »Sehen Sie sich die an«, sagt er und gibt Fred die Baseballmütze.
»Omeingott«, sagt Fred Marshall mit einem erschrockenen Wortschwall. »Ist das … ist das …?« Er sieht unter den Mützenschirm und atmet stoßartig aus, als er den Namen seines Sohns entdeckt. Sein Blick springt zu Jack hinüber. »Das ist Tylers Mütze. Himmel, das ist seine. Großer Gott!« Er drückt die Mütze an die Brust und holt zweimal tief Luft, ohne den Blick von Jack zu wenden. »Wo haben Sie die gefunden? Wie lange ist das her?«
»Ich habe sie heute Morgen auf der Straße gefunden«, sagt Jack. »In der Region, die Ihre Frau Anderland nennt.«
Mit einem lang gezogenen Stöhnen öffnet Fred Marshall die Fahrertür und springt hastig aus dem Wagen. Als Jack ihn erreicht, steht er am äußersten Rand des Aussichtspunkts, hält die Baseballmütze an die Brust gedrückt und sieht zu den blaugrünen Hügeln hinter dem weiten Flickenteppich aus Feldern hinüber. Er fährt herum und starrt Jack an. »Glauben Sie, dass er noch lebt?«
»Ich glaube, dass er lebt«, sagt Jack.
»In der Welt dort drüben.« Fred deutet auf die Hügel. Tränen schießen ihm in die Augen, und die Lippen zittern ihm. »In dieser Welt, die irgendwo dort drüben existiert, wie Judy sagt.«
»Genau in dieser Welt.«
»Dann gehen Sie hin und finden Sie ihn!«, schreit Fred mit tränenüberströmtem Gesicht und schwenkt die Baseballmütze
wild in Richtung Horizont. »Gehen Sie hin und bringen Sie ihn zurück, verdammt noch mal! Ich kann’s nicht, also müssen Sie’s tun.« Er tritt einen Schritt vor, als wollte er zu einem Boxhieb ausholen, dann schlingt er die Arme um Jack Sawyer und beginnt zu schluchzen.
Sobald Fred nicht mehr zittert und seine Atmung sich etwas beruhigt hat, sagt Jack: »Ich werde tun, was ich kann.«
»Ich weiß, dass Sie das tun werden.« Fred tritt zurück und wischt sich die Tränen aus den Augen. »Tut mir Leid, dass ich Sie so angebrüllt habe. Ich weiß, dass Sie uns helfen werden.«
Die beiden Männer machen kehrt, um zum Auto zurückzugehen. Weit im Westen verdecken lockere, wollige Schleier aus blassgrauem Dunst das Land am Fluss.
»Was ist das?«, fragt Jack. »Regen?«
»Nein, Nebel«, sagt Fred. »Kommt vom Mississippi rein.«
TEIL DREI
Plutos nächtige Sphäre
15
Bis zum Abend ist die Temperatur um zehn Grad gefallen, und eine schwach ausgeprägte Kaltfront zieht über unsere kleine Ecke des Coulee Countrys hinweg. Es gibt kein Gewitter, aber als der Himmel sich ins Violette verfärbt, zieht dichter Nebel auf. Er kommt aus dem Fluss und kriecht die schräge Rampe der Chase Street hinauf, wo er erst die Rinnsteine, danach die Gehsteige, dann die Gebäude selbst verschwimmen lässt. Er kann sie nicht ganz verschlucken, wie es die Winter- und Frühjahrsnebel manchmal tun, aber dieses Verschwimmenlassen ist irgendwie noch schlimmer: Es raubt Farben und lässt Formen zerfließen. Der Nebel lässt das Gewöhnliche fremdartig erscheinen. Und dazu kommt der Geruch, jener uralte, an Möwen erinnernde Geruch, der einem tief in die Nase dringt und unser Unterbewusstsein weckt, jenen Teil unseres Bewusstseins, der durchaus imstande ist, an Ungeheuer zu glauben, wenn die Sichtweite abnimmt und das Herz sich unbehaglich fühlt.
In der Sumner Street arbeitet Debbi
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