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Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus

Titel: Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stephen;Straub King
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und Beweglichkeit füllt alle Hohlräume seines Körpers aus; gleichzeitig ist ihm die unerbittliche Trägheit seines Körpers, sein Widerstand gegen das Fliegen noch nie so bewusst gewesen. Wenn sie diesen Raum verlassen, denkt er, wird es wie ein Raketenstart sein. Der Boden unter ihm scheint zu vibrieren.
    Es gelingt Jack, seinen Armen folgend auf Judy Marshall hinunterzublicken, die sich mit geschlossenen Augen so weit
zurücklehnt, dass ihr Kopf parallel zum vibrierenden Fußboden ist, und im Bewusstsein des Erfolgs wie in Trance lächelt. Ein silbrig weißer Lichtschein umgibt sie. Ihre wohl geformten Knie, ihre unter dem Saum des alten blauen Nachthemds leuchtenden schlanken Beine, ihre fest auf dem Boden stehenden Füße. Dieser Lichtschein umwabert auch ihn. Alles das kommt von ihr, denkt Jack, und von …
    Ein Brausen erfüllt die Luft, und die Georgia-O’Keeffe-Poster fliegen von den Wänden. Die niedrige Couch rumpelt von der Wand weg; vom bebenden Schreibtisch wirbelt Papier in die Höhe. Eine minimalistische Halogenlampe kracht zu Boden. Im gesamten Krankenhaus, auf allen Stockwerken, auf allen Stationen, in allen Zimmern vibrieren Betten, werden Fernsehschirme schwarz, klappern Instrumente auf ihren ratternden Tabletts, flackern die Lichter. In der Geschenkboutique fallen Spielsachen aus den Regalen, und die großen Lilien schlittern in ihren Vasen über den Marmorboden der Eingangshalle. Oben im vierten Stock explodieren Glühbirnen in einem goldenen Funkenregen.
    Das Brausen wie von einem Wirbelsturm wird lauter, noch lauter und verwandelt sich mit ohrenbetäubendem Zischen in eine weite weiße Fläche aus Licht, die im nächsten Augenblick auf Stecknadelkopfgröße schrumpft und verschwindet. Verschwunden ist auch Jack Sawyer, und aus dem Schrank verschwunden ist Wendell Green.
    In die Territorien gesaugt , aus einer Welt geschleudert und von einer anderen aufgesogen , hinauskatapultiert und eingefangen, Mann, das steht hundertfach über dem einfachen, wohl bekannten Flippen. Jack liegt auf dem Rücken, sieht zu einem zerrissenen weißen Laken auf, das wie ein zerfetztes Segel im Wind flattert. Vor einer Viertelsekunde hat er ein anderes wei ßes Laken gesehen, das aus reinem Licht bestand, statt wie dieses hier wirklich aus Stoff zu sein. Die linde, wohl riechende Luft liebkost ihn. Zunächst ist ihm nur bewusst, dass jemand seine rechte Hand hält; dann merkt er, dass eine erstaunliche Frau neben ihm liegt. Judy Marshall. Nein, nicht Judy Marshall, die er auf seine Art liebt, sondern eine andere erstaunliche Frau, die einst nachts durch eine Mauer hindurch flüsternd
mit Judy gesprochen hat und in letzter Zeit immer beharrlicher versucht hat, sie zu erreichen. Jack will eben ihren Namen aussprechen, als …
    In sein Blickfeld schiebt sich ein klassisch schönes Gesicht, das Judys ähnlich und doch unähnlich ist. Es ist auf derselben Drechslerbank gedrechselt, im selben Brennofen gebrannt, von demselben begnadeten Bildhauer gemeißelt worden – aber feiner modelliert, mit leichterer, zärtlicherer Hand. Jack ist vor Staunen wie gelähmt. Er kann kaum atmen. Diese Frau über ihm, deren Gesicht jetzt mit liebevoller Ungeduld auf ihn herablächelt, ist nie verheiratet oder Mutter gewesen, hat die Territorien, die ihre Heimat sind, nie verlassen, ist nie mit einem Flugzeug geflogen oder mit einem Auto gefahren, hat nie einen Fernseher eingeschaltet, Eiswürfel aus einem Tiefkühlschrank geholt oder eine Mikrowelle benutzt – und sie strahlt Geist und innere Anmut aus.
    Humor, Zärtlichkeit, Mitgefühl, Intelligenz und Stärke leuchten aus ihren Augen und sprechen aus dem Schwung ihrer Lippen, aus dem ganzen Schnitt ihres Gesichts. Er kennt ihren Namen, und ihr Name passt perfekt zu ihr. Jack hat das Gefühl, sich auf den ersten Blick in diese Frau verliebt, sich auf der Stelle für ihre Sache engagiert zu haben, und stellt nun fest, dass er endlich ihren perfekten Namen aussprechen kann:
    Sophie.

21
    »Sophie.«
    Jack steht auf, ohne ihre Hand loszulassen, und zieht sie mit sich hoch. Seine Beine zittern. Seine Augen fühlen sich heiß an und zu groß für die Höhlen. Er ist gleichermaßen, zu exakt gleichen Teilen, verängstigt und überglücklich. Sein Herz hämmert, aber die Schläge sind so überaus sanft. Beim zweiten Versuch schafft er es, ihren Namen etwas lauter auszusprechen, aber seine Stimme ist noch immer nicht sehr kräftig, und seine Lippen sind gefühllos, wie mit Eis eingerieben.

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