Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
große Augen, bewegt leicht die Lippen und knetet die Hände (auf den Handrücken sind jetzt Schnitt- und Kratzwunden zu sehen, obwohl Judy ihre Fingernägel vernünftig kurz schneidet).
Ty sind die sich verstärkenden Eigentümlichkeiten seiner Mutter ebenfalls aufgefallen. Am Sonntag, als Vater und Sohn beim Mittagessen saßen – Judy war oben und machte eines ihrer langen Nickerchen, auch das eine neue Angewohnheit -, fragte der Junge plötzlich aus heiterem Himmel: »Was ist eigentlich mit Mama los?«
»Ty, ihr fehlt nichts, das …«
»Doch! Tommy Erbter sagt, dass sie kurz davor ist überzuschnappen.«
Und hatte er über Tomatensuppe und Käsetoast hinweggelangt und seinem Sohn eine geknallt? Seinem einzigen Kind? Dem guten alten Ty, der sich nur Sorgen machte? Gott sei’s geklagt, das hatte er getan.
Draußen vor der Haustür, wo ein Weg aus Betonplatten zur Straße hinunterführt, beginnt Fred, langsam auf der Stelle zu traben und dabei tief durchzuatmen, um den Sauerstoff zu deponieren, den sein Organismus bald verbrennen wird. Für ihn ist dies meistens der beste Teil des Tages (jedenfalls dann, wenn Judy und er nicht miteinander schlafen, wozu es in letzter Zeit aber herzlich selten kommt). Er mag das Gefühl – das Wissen -, dass dieser Fußweg der Beginn einer Straße nach Irgendwo sein könnte, dass er hier im Stadtteil Libertyville von French Landing loslaufen und in New York ankommen könnte … oder in San Francisco … in Bombay … auf den Bergpässen Nepals. Jeder Schritt vor die eigene Haustür lädt die Welt (vielleicht sogar das Universum) ein. Das ist etwas, was Fred Marshall intuitiv versteht. Er verkauft nichts anderes als Traktoren von John Deere und Kultivatoren von Case, gut, okay , das gibt er gern zu, aber das heißt noch lange nicht, dass er gänzlich fantasielos ist. Als Judy und er an der UW/Madison studierten, trafen sie sich zu ihren ersten Verabredungen immer in einem Coffee Shop in Campusnähe, einem Espresso-Jazz-und-Lyrik-Paradies, das Chocolate Watchband hieß. Man läge nicht ganz daneben, wollte man behaupten, sie hätten sich ineinander verliebt, während zornige Betrunkene über die billige, aber außerordentlich volltönende Lautsprecheranlage im Chocolate Watchband aus Werken von Allen Ginsberg und Gary Snyder vortrugen.
Fred atmet nochmals tief durch und läuft dann los. Die Robin Hood Lane hinunter zum Maid Marian Way, wo er Deke Purvis zuwinkt. Purvis, der Bademantel und Pantoffeln trägt, hebt gerade Wendell Greens tägliche Dosis Unheil von seiner Türschwelle auf. Dann biegt Fred auf die Avalon Street ab, verschärft sein Tempo etwas und zeigt dem Morgen die Fersen.
Vor seinen Sorgen kann er jedoch nicht weglaufen.
Judy, Judy, Judy, denkt er im Tonfall Cary Grants (ein kleiner Scherz, über den seine große Liebe schon lange nicht mehr lachen kann).
Da ist also das Kauderwelsch, wenn sie schläft. Da ist die Sache, wie sie mit unstetem Blick um sich sieht. Und nicht zu vergessen das eine Mal (vor drei Tagen erst), als er ihr in die Küche folgte, sie aber auf einmal nicht mehr da war – stattdessen kam sie plötzlich hinter ihm die Treppe herunter. Aber wie sie das geschafft hat, erscheint ihm weniger wichtig als die Frage, warum sie’s getan hat, warum sie die Hintertreppe hinaufgeschlichen ist, um dann die vordere Treppe wieder heruntertrampeln zu können (so muss sie’s nämlich gemacht haben; das ist die einzige Lösung, die Fred einfällt). Da ist auch noch das ständige Belecken und Abtasten der Oberlippe mit der Zungenspitze. Fred weiß, wozu sich das alles summiert: Judy benimmt sich wie eine Frau in panischer Angst. Angefangen hat sie damit allerdings schon vor dem Mord an Amy St. Pierre, weshalb es nicht am Fisherman liegen kann, jedenfalls nicht ausschließlich am Fisherman.
Und dann kommt da eine noch wichtigere Sache hinzu. Bis vor ein paar Wochen hätte Fred jedem erzählt, seine Frau wisse gar nicht, was Angst sei. Judy mag vielleicht nur knapp eins sechzig groß sein (»Na, du bist ja gerade mal ein laufender Meter«, hatte der Kommentar seiner Großmutter gelautet, als er ihr seine Verlobte vorstellte), aber sie hat das Herz eines Löwen, eines wahren Wikingerhelden. Das ist kein Scheiß, keine maßlose Übertreibung, keine dichterische Freiheit: Aus Freds Sicht ist das die schlichte Wahrheit. Der Gegensatz zwischen dem, was er zu kennen glaubte, und dem, was er nun wahrnimmt, erschreckt ihn jetzt aber umso mehr.
Von der Avalon
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