Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
Gestalt ans Glas der Studiotür geklopft hat, sind vielleicht zwei Sekunden vergangen, und Henry, der die völlige Ruhe eines Mannes bewahrt hat, der offenbar das Klopfen seines Besuchers überhört hat, kann nicht länger auf Zeit spielen. Wie in Gedanken verloren, umfasst er mit einer Hand den Sockel eines schweren Rundfunkpreises, den George Rathbun vor einigen Jahren in absentia überreicht bekommen hat, während die andere Hand aus der flachen Bleistiftschale vor ihm ein Springmesser klaubt, das ein Bewunderer einst als Geschenk für die Wisconsin Rat beim College-Sender KWLA abgegeben hat. Henry benützt dieses Messer, um CD-Hüllen aus ihrer Verpackung zu schälen. Erst vor kurzem hat er sich auf der Suche nach einer nützlichen Beschäftigung für seine Hände beigebracht, es zu schärfen. Mit eingeschobener Klinge sieht das Messer wie ein ungewöhnlich flacher Füller aus. Zwei Waffen sind doppelt so gut wie eine, denkt sich Henry, vor allem, wenn der Gegner die zweite Waffe für harmlos hält.
Inzwischen sind vier Sekunden verstrichen, seit ans Fenster neben ihm geklopft wurde, und sowohl Burny als auch Mr. Munshun sind auf ihre jeweilige Weise beträchtlich unruhiger geworden. Mr. Munshun schreckt hasserfüllt vor dem Hauch von d’yamba zurück, der diese ansonsten entzückende Szene irgendwie kontaminiert hat. Sein Auftauchen kann nur eines bedeuten: Irgendein Mensch, der mit dem Blinden in Verbindung steht, ist dem Schwarzen Haus nahe genug gekommen, um das Gift seines grimmen Hüters spüren zu können. Und das bedeutet wiederum, dass der verhasste Jack Sawyer jetzt zweifellos von der Existenz von Black House weiß und beabsichtigt, eine Bresche in dessen Schutzwälle zu schlagen. Es wird Zeit, den Blinden zu vernichten, um dann heimzukehren.
Burny nimmt nur eine unausgegorene Mischung aus Hass
und einem überraschend an Angst erinnernden Gefühl seines Herrn wahr. Burny empfindet Wut darüber, dass Henry Leyden sich seine Stimme angeeignet hat, eine Tatsache, die er als bedrohlich erkennt; noch stärker als dieser Selbsterhaltungstrieb ist jedoch seine Sehnsucht nach dem einfachen, aber nachhaltigen Vergnügen, Blut zu vergießen. Sobald Henry abgeschlachtet ist, will Charles Burnside nur noch ein weiteres Opfer erledigen, bevor er in das Schwarze Haus flüchtet und damit ein Reich betritt, das er unter dem Namen Sheol kennt.
Mit großen, missgebildeten Fingerknöchel klopft er abermals ans Glas.
Henry wendet sich mit einer makellosen Imitation milder Überraschung dem Fenster zu. »Dachte ich’s mir doch, dass dort draußen jemand ist. Wer ist da? … Na los, reden Sie!« Er betätigt einen Kippschalter und spricht ins Mikrofon. »Falls Sie etwas sagen, kann ich Sie nicht verstehen. Lassen Sie mir einen Augenblick Zeit, hier Schluss zu machen, dann komme ich sofort zu Ihnen hinaus.« Er sieht wieder nach vorn und bleibt über den Arbeitstisch gebeugt sitzen. Mit der linken Hand berührt er wie zufällig den edlen Rundfunkpreis; die rechte Hand hält er verborgen. Henry ist scheinbar tief in Gedanken versunken. In Wirklichkeit horcht er jedoch angestrengter als je zuvor in seinem Leben.
Er hört, wie der Türknauf der Studiotür sich mit wundersamer Langsamkeit im Uhrzeigersinn dreht. Die Tür geht fast lautlos auf: einen Fingerbreit, zwei, drei. Der schwere Blütenduft von My Sin dringt ins Studio und scheint sich als dünner chemischer Film über das Mikrofon, die Tonbandbehälter, alle Anzeigegeräte und Henrys absichtlich dargebotenen Nacken zu legen. Die Sohle von etwas, was ein Filzpantoffel sein könnte, huscht über den Fußboden. Henry umklammert seine Waffen fester und wartet auf das spezielle Geräusch, das sein Signal sein wird. Er hört einen weiteren fast lautlosen Schritt, dann noch einen, und weiß, dass der Fisherman hinter ihm angelangt ist. Auch er trägt eine Waffe – irgendeinen Gegenstand, der den Parfümnebel mit dem Grasgeruch von Vorgärten und der Schmierigkeit von Maschinenöl überlagert. Henry kann sich nicht vorstellen, was das ist, aber die Bewegung
der Luft verrät ihm, dass es schwerer als ein Messer ist. Das kann sogar ein Blinder sehen. Eine gewisse Schwerfälligkeit im o so leisen nächsten Schritt des Fisherman lässt Henry vermuten, dass der alte Bursche seine Waffe mit beiden Händen hält.
In Henrys Vorstellung ist ein Bild entstanden, auf dem sein Gegner zum Angriff bereit hinter ihm steht, und dieses Bild ergänzt er jetzt durch ausgestreckte, erhobene
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