Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
müssen, eine breite, deutliche Blutspur hinter sich herzuziehen. Irgendwie scheint er mit dem Zeug getränkt zu sein, sein Hemd ist von Blut durchnässt, und die Hosenbeine sind hinten nass. Blut strömt ihm weiter übers Gesicht, und trotz des Adrenalinschubs spürt Henry, wie seine Kräfte allmählich nachlassen. Wie viel Zeit bleibt ihm noch, bis er verblutet – zwanzig Minuten?
Er schlittert den Flur entlang und rennt ins Wohnzimmer.
Aus dieser Sache komme ich nicht mehr raus, denkt Henry. Ich habe schon zu viel Blut verloren. Aber ich kann’s wenigstens durch die Tür schaffen, um im Freien zu sterben, wo die Luft frischer ist.
Vom Flur her erreicht ihn die heisere Stimme des Fisherman: »Ich hab das Stück von deiner Backe aufgegessen, und jetzt sind die Finger dran. Hörst du mir zu, du verdammtes Arschloch?«
Henry schafft es bis zur Tür. Seine Hand rutscht immer wieder von dem Türknauf ab; der Knauf will sich nicht drehen lassen. Er tastet nach dem Verriegelungsknopf, der hineingedrückt ist.
»Ich will wissen, ob du mir zuhörst! « Der Fisherman kommt näher, und seine Stimme ist voller Wut.
Henry braucht nur den Knopf zu drücken, der das Schloss entriegelt und den Türknauf zu drehen. Er könnte in einer Sekunde aus dem Haus sein, aber seine restlichen Finger wollen ihm einfach nicht gehorchen. Also gut, ich werde sterben, sagt er sich. Ich werde Rhoda folgen, ich werde meiner Lerche folgen, meiner schönen Lerche.
Dann Kaugeräusche, komplett mit Geschmatze und Knirschlauten.
»Du schmeckst wie Scheiße. Ich esse deine Finger, und sie schmecken wie Scheiße. Weißt du, was ich mag? Weißt du, was ich am allerliebsten esse? Die zarten Hinterbacken kleiner Kinder. Die mochte Albert Fish auch, o ja, die hat er gemocht. Mmm-mmm! Babyarsch! Das ist was ganz Leckeres! «
Henry stellt fest, dass er irgendwie die widerspenstige Tür entlang hinuntergerutscht ist und sich jetzt – viel zu heftig atmend – auf allen vieren befindet. Er schiebt sich vorwärts und kriecht hinter das Sofa im Missionsstil, auf dem er behaglich sitzend zugehört hat, wie Jack Sawyer einiges von Charles Dickens geschriebenen eloquenten Sätzen vorgelesen hat. Zu den Dingen, die er nun nie mehr wird tun können, das wird ihm jetzt klar, gehört, dass er erfährt, wie Bleak House ausgeht. Und dass er nie wieder mit seinem Freund Jack zusammensein können wird.
Die Schritte des Fisherman poltern ins Wohnzimmer und machen dort Halt. »Scheiße, wo zum Teufel steckst du, du Arschloch? Vor mir kannst du dich nicht verstecken.« Die Schneiden der Heckenschere machen schnipp-schnapp .
Entweder ist der Fisherman so blind geworden wie Henry – oder im Wohnzimmer ist es inzwischen stockfinster. Ein klein wenig Hoffnung, einem Zündholzflämmchen gleich, flackert in Henry auf. Vielleicht wird sein Widersacher die Lichtschalter nicht finden können.
»Arschloch!« Aasch-loch. »Verdammt, wo hast du dich verkrochen?« ’dammt, wo hassu dich vakrochn?
Faszinierend, denkt Henry. Je zorniger und frustrierter der Fisherman wird, desto mehr nähert sein Akzent sich diesem bizarren Nicht-Deutsch an. Es ist nicht mehr die South Side von Chicago, aber auch nichts anderes. Garantiert ist es kein wirkliches Deutsch. Hätte Henry Dr. Spieglemans Beschreibung des Akzents gehört – Englisch, das ein Franzose spricht, der einen deutschen Akzent anzunehmen versucht -, hätte er dazu lächelnd genickt. Es klingt wie ein außerirdischer deutscher Akzent, wie etwas, was in Richtung Deutsch mutiert ist, ohne es je gehört zu haben.
»Du hast mich verletzt, du Schweinehund!« Du hasd mich valesst, du Schwainhunt!
Der Fisherman stößt gegen den Sessel und schleudert ihn wütend beiseite. Mit seiner Chicagoer Stimme sagt er: »Wart nur, ich find dich, Freundchen, und dann schneid ich dir deinen Scheißkopf ab.«
Eine Stehlampe fällt um. Die Füße in Pantoffeln stampfen behäbig auf die rechte Seite des Zimmers hinüber. »Ein Blinder, der sich in der Dunkelheit versteckt, was? He, das ist gelungen, das ist echt gelungen. Ich will dir was sagen: Ich hab schon längere Zeit keine Zunge mehr gegessen, aber ich glaube, dass ich deine versuchen werde.« Ein Beistelltisch mit darauf stehender Lampe kracht scheppernd zu Boden. »Dazu noch was. Zungen sind komisch. Die Zunge von einem alten Mann schmeckt nicht viel anders als die von einem jungen Burschen – obwohl Kinderzungen natürlich doppelt so gut wie die beiden anderen sind. Als ich Fridz
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