Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
sich nicht mal einen Spalt breit öffnen wollen. Hier wurde nicht über Geschichte gesprochen; die Vergangenheit war mit Brettern vernagelt.
Sie tranken ihr Bier aus und hängten die restlichen Bilder auf. Währenddessen sprachen sie über hundert Dinge, jedoch stets innerhalb der von Jack Sawyer festgelegten Grenzen. Dale war sich sicher, dass seine Frage nach Jacks Eltern den Abend verkürzt hatte, aber warum sollte das der Fall sein? Was verbarg dieser Kerl? Und vor wem verbarg er es? Als sie fertig waren, bedankte Jack sich herzlich, begleitete Dale zu dessen Wagen und nahm ihm damit jede Hoffnung auf ein Einlenken in letzter Minute. Klappe zu, Affe tot, macht den Hosenstall dicht, um den unsterblichen George Rathbun zu zitieren. Als
sie in der duftenden Nacht unter einer Million Sternen standen, seufzte Jack zufrieden und sagte: »Du weißt hoffentlich, wie dankbar ich dir bin. Ehrlich, mir tut’s Leid, dass ich wieder nach L. A. muss. Man muss bloß dran denken, wie schön es hier ist!«
Auf der Rückfahrt nach French Landing, als seine Scheinwerfer die einzigen waren, die auf der langen Geraden des Highways 93 aufleuchteten, fragte sich Dale, ob Jacks Eltern nicht vielleicht mit einem Sektor der Unterhaltungsindustrie zu tun gehabt hatten, der ihrem erwachsenen Sohn jetzt peinlich war – zum Beispiel mit Pornografie. Vielleicht hatte Papa Pornofilme gedreht, und Mama war seine Hauptdarstellerin gewesen. Leute, die Schmuddelfilme drehten, verdienten wahrscheinlich eine Menge Geld, vor allem wenn es in der Familie blieb. Bevor sein Tachometer eine weitere zurückgelegte Zehntelmeile anzeigte, zerfiel Dales Befriedigung über die Erkenntnis jedoch wieder zu Staub, weil er sich an den kleinen Fairfield Potter erinnerte. Keine Frau, die sich ihren Lebensunterhalt damit verdiente, dass sie vor laufender Kamera mit Unbekannten bumste, hätte für ein solches Gemälde richtiges Geld ausgegeben.
Wir wollen uns in Jack Sawyers Küche begeben. Auf dem Tisch liegt aufgeschlagen die heutige Ausgabe des Herald; auf dem vorderen linken Brenner des Gasherds wird eine vor kurzem mit Speiseöl ausgesprühte schwarze Bratpfanne heiß. Ein großer, durchtrainierter, sehr sorgenvoll wirkender Mann, der ein altes USC-Sweatshirt, Jeans und sirupfarbene italienische Slipper trägt, rührt mit einem Schneebesen in einer Edelstahlschüssel, in die er jede Menge Eier geschlagen hat.
Während wir beobachten, wie er hoch über der glänzenden Schüssel mit gerunzelter Stirn ins Leere starrt, stellen wir fest, dass der hübsche Junge, den wir zuletzt in einem Zimmer im dritten Stock eines verlassenen Hotels in New Hampshire gesehen haben, zu einem Mann herangewachsen ist, dessen gutes Aussehen allerdings nur einen winzigen Bruchteil dessen ausmacht, was ihn interessant macht. Denn dass Jack Sawyer interessant ist, springt sofort ins Auge. Selbst wenn irgendeine
Privatangelegenheit, irgendein Rätsel, ihm wahnsinnige Sorgen macht, können wir angesichts dieses nachdenklichen Stirnrunzelns trotzdem feststellen, dass Jack Sawyer unwillkürlich überzeugende Autorität ausstrahlt. Man braucht ihn nur anzusehen, um zu wissen, dass er zu den Menschen gehört, an die andere sich Hilfe suchend wenden, wenn sie nicht weiterwissen, sich bedroht fühlen oder das Gefühl haben, ihre Pläne würden durch widrige Umstände durchkreuzt. Intelligenz, Entschlusskraft und Verlässlichkeit haben seine Gesichtszüge so tief geprägt, dass ihre Attraktivität für ihren Ausdruck nebensächlich ist. Dieser Mann bleibt nie vor Spiegeln stehen, um sich zu bewundern – Eitelkeit gehört nicht zu seinen Charakterzügen. So ist es nur verständlich, dass er im Los Angeles Police Department zu den aufsteigenden Stars gehörte, seine Akte von Belobigungen überquoll und er für mehrere vom FBI gesponserte Weiterbildungsmaßnahmen und Fortbildungskurse ausgewählt wurde, deren Zweck die Förderung ebenjener aufsteigenden Stars war. (Insgeheim waren einige von Jacks Kollegen und Vorgesetzten der Überzeugung, er werde schon mit etwa vierzig Polizeipräsident einer Großstadt wie San Diego oder Seattle werden und – wenn alles nach Plan lief – zehn bis fünfzehn Jahre später zu San Francisco oder New York aufsteigen.)
Weitaus erstaunlicher ist, dass Jacks Alter nicht wichtiger als seine Attraktivität zu sein scheint: Er erweckt den Eindruck, vor diesem Leben schon mehrere andere gelebt zu haben, an Orten gewesen und Dinge gesehen zu haben, die über den
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