Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
Korb aus, aber Olivia drehte sich zur Seite, als hätte sie es nicht bemerkt. »Wir lernen heute einiges über Tiere, Mr Croome«, erzählte sie. »Und ich dachte, Sie könnten uns vielleicht dabei helfen.«
»Was? Ich soll Ihre Arbeit machen?«
»Wer würde sich sonst so gut eignen? Wer weiß mehr über Tiere als Sie?«
»Ich kenne nur Wild und Kühe und Schweine und Hühner und so etwas. Und natürlich alle möglichen Arten von Land- und Wasservögeln.«
»Und Raubtiere, Mr Croome?«
»Ach, ja. Ein Wildhüter muss seine Feinde kennen, nicht wahr? Die Eule, den Raben, die Wildkatze, das Wiesel. Aber ich bin kein Lehrer. Bin es nie gewesen und werde es nie sein.«
Olivia seufzte. »Na gut. Kinder, ist das Rebhuhn ein Land- oder ein Wassertier?«
»Ein Vogel?«, riet Audrey.
»Eine Taube!«, rief Andrew.
Mr Croome schüttelte den Kopf und ließ sich nicht ködern.
»Und was fressen Wildkatzen?«
»Milch?«, schlug Audrey vor.
»Tauben!«, verkündete Andrew.
Empört warf Croome die knochigen Hände in die Höhe. »Junge, hast du jemals eine Wildkatze gesehen?«
Andrew schüttelte den Kopf.
»Sonst müsstest du wissen, dass so ein gieriges Tier sich nicht mit einem winzigen Vogel abgibt, wenn der Wald voller Hasen ist. Das fressen sie am liebsten, merk’s dir. Sie nehmen zur Not aber auch Fasanen, Rebhühner und alles mögliche Federvieh. Deshalb nehme ich Bob nachts immer mit ins Haus.«
»Wer ist Bob?«, fragte Andrew.
Als der Mann zögerte, erklärte Olivia in liebenswürdigem Ton: »Ich glaube, er ist Mr Croomes zahmes Rebhuhn.«
Croome dankte es ihr mit einem zornigen Blick.
»Sie halten ein Rebhuhn als Haustier?«, fragte Audrey beeindruckt.
»Ja, das stimmt. Wehe, ihr macht euch über mich lustig.«
»Nein, Sir!«, antwortete Andrew. »Dürfen wir ihn sehen?«
Audrey fügte hinzu: »Dürfen wir ihn füttern?«
Croome betrachtete Olivia eindringlich und seine Feindseligkeit wich der Resignation. »Ach, na gut, ihr Racker. Ich hole ihn heraus und zeige ihn euch.«
Olivia holte die beiden aufeinander gestapelten, abgedeckten Teller aus ihrem Korb. Croome wollte sie entgegennehmen, doch sie ließ sie nicht los. »Mrs Moore braucht die Teller zurück. Haben Sie Gefäße, in die wir das Essen umfüllen könnten?«
Seine Brauen zogen sich finster zusammen, doch sie meinte, ein winziges Aufblitzen von Humor in seinen graublauen Augen zu entdecken. »Sie halten mich nicht zum Narren, Mädchen. Sie wollen nur in meinem Haus herumschnüffeln, oder?«
Sie zuckte nur die Achseln. »Diese Teller werden wirklich schwer.«
»Na gut, dann kommen Sie eben mit. Wisch dir die Füße ab, Andrew, das hier ist kein Schweinestall.«
Im Haus ließ Croome die Pastete und die gelben, mit Zitrone aromatisierten Knödel in eigene Gefäße gleiten, während die Kinder begeistert um Bob herumtanzten, der Croome wie ein treuer Hund folgte. Olivia wanderte langsam durch den Raum und bemerkte den Staub, die Spinnweben, ein bescheidenes Bücherregal und zwei bunte Bilder an der Wand, die in edlen Birkenholzrahmen hingen wie in einer Porträtgalerie.
Sie beugte sich vor, um sie besser betrachten zu können. Obwohl auf grobem Papier, waren die Bilder selbst erstaunlich gut. Das Erste zeigte einen Mann von der Hüfte an aufwärts, der den Kopf zur Seite neigte, um auf einen kleinen Vogel in seiner Hand zu blicken. Sein Gesicht zeigte die Andeutung eines Lächelns, als wisse er, dass er beobachtet wurde. Der Künstler hatte einen entrüsteten und zugleich nachsichtigen Gesichtsausdruck eingefangen.
»Na so etwas, das sind Sie!«, rief Olivia aus. Sie hatte Mr Croome mit einem Lächeln kaum erkannt.
Er warf ihr über die Schulter einen finsteren Blick zu. »Hören Sie auf, hier herumzustöbern. Ich hätte ein Bild von mir nicht so offen aufgehängt, aber Alice hat das gemacht. Sie hat es gemalt, gerahmt und dort aufgehängt. Es gefiel ihr, also lasse ich es. Und lassen Sie es jetzt gut sein.«
Olivia ignorierte ihn und betrachtete das zweite Bild. Es zeigte eine Frau – den Kopf und die Schultern – umgeben von bunten Blumen und Cherubinen. Ihr Gesicht war nicht so deutlich wie das von Mr Croome, aber es besaß eine unbestimmte ätherische Schönheit.
»Ist das Ihre Frau?«, erkundigte sich Olivia.
»Ja. Das ist meine Maggie.« Croome ließ die Kinder Bob weiter mit Fliegen füttern, und trat neben Olivia vor die Wand. »Es ist ganz gut gelungen, obwohl Alice es nach ihrem Tod aus dem Gedächtnis gemalt
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