Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
hat.«
»Sie ist wunderschön.«
Er nickte. »Ich erinnere mich daran, dass sie sogar noch schöner war. Aber natürlich kam sie mir so vor.«
»Ihr Verlust tut mir sehr leid«, sagte Olivia. Sie hätte gern nach Alice gefragt, wagte es aber nicht.
»Mir tut es noch viel mehr leid.« Er trat zurück an den Tisch. »In Ordnung. Hier sind Nells Teller. Und jetzt hören Sie auf, sich in meine Angelegenheiten zu mischen.«
Edward schlenderte gemächlich durch den Wald. Sein Ziel war sein Lieblingsplatz am Fluss. Die Luft war frisch und roch nach jungem Gras und dem vergangenen Regen. Das Lied der Rotkehlchen umgab ihn mit einem fröhlichen Chor. In diesen Chor fielen die Stimmen der Kinder ein und Edward hielt inne. Er hörte Lachen und ein seltsames surrendes, klatschendes Geräusch. Was um alles in der Welt war das? War Miss Keene mit den Kindern bei einer ihrer »Naturexpeditionen« im Wald?
Er folgte dem Geräusch, erst zügig, dann verlangsamte er seine Schritte, als er merkte, dass es ihn zur Hütte des Wildhüters führte.
Als er sich der Lichtung näherte, blieb er stehen und blickte durch die Bäume hindurch auf eine unerwartete Szene.
Miss Keene saß auf einem Baumstumpf. Audrey schwang wie ein müdes Pendel auf einer alten Seilschaukel hin und her. Mr Croome half Andrew, einen Bogen an seine kleine Schulter anzulegen, und zeigte ihm, wie er den Pfeil an der Sehne ausrichten musste. Der Junge ließ den Pfeil los. Er beschrieb einen schwachen Bogen und landete ein gutes Stück vor der mit Stroh ausgepolsterten Zielscheibe am Ende der Lichtung.
»Och … das ist zu schwer«, jammerte Andrew. »Warum soll man sich mit Pfeil und Bogen abgeben, wenn Sie Ihre Flinte haben, Mr Croome? Geben Sie mir die in die Finger und ich würde ganz gerade schießen. Ich weiß, dass ich das könnte.«
»Ein Gewehr hat seinen Zweck, junger Mann. Aber das gilt auch für Pfeil und Bogen.«
»Das verstehe ich nicht. Warum schießt man nicht einfach auf die Beute und fertig?«
»Streng deinen Kopf an, Junge. Drück das Gewehr einmal ab und die ganze Gegend hört es. Sämtliche Tiere rennen oder fliegen davon. Aber mit Pfeil und Bogen bist du lautlos, Junge. Du kannst einen Hasen töten oder einen Bock erlegen, bevor sein Nachbar etwas davon mitbekommt.«
»Aha …«
»Jetzt versuch es noch einmal, Master Andrew, und zieh die Sehne dieses Mal mit jedem Muskel zurück, den der liebe Gott dir gegeben hat.«
Andrew nickte und hob den Bogen ein zweites Mal. Croome half ihm, den Pfeil auszurichten, flüsterte ihm eine Anweisung ins Ohr, legte seine Finger dann über die des Jungen und zog mit ihm zusammen die Sehne weiter zurück.
»Du schaffst das«, sagte Miss Keene ermutigend.
»Vergiss nicht zu zielen«, fügte Audrey hinzu.
Mann und Junge ließen den Pfeil gemeinsam los. Er surrte durch die Luft, durchdrang den äußeren Ring der papiernen Zielscheibe und blieb bebend im Strohpolster dahinter stecken.
Audrey und Miss Keene jubelten. Croome schlug Andrew auf seine schmalen Schultern und der Junge wäre fast nach vorn gefallen, aber sein Lächeln wurde nur breiter. Edward war innerlich hin und her gerissen. Er erinnerte sich an die früheren Warnungen seines Vaters vor dem Wildhüter. Edward hatte Miss Keene sogar davon erzählt. Trotzdem hielt sie es für sicher und klug, die Kinder hierherzubringen?
Croome bemerkte ihn als Erster. Er warf einen scharfen Blick über die Schulter – seine alten Ohren funktionierten offenbar immer noch gut. Es entging ihm weder eine näherkommende Beute noch ein sich anschleichender Jäger. Wozu zählte er? Edward trat vor und die Kinder begrüßten ihn stürmisch.
»Ich habe die Zielscheibe getroffen, Cousin Edward. Hast du das gesehen?«, wollte Andrew wissen.
»Ja, das habe ich gesehen. Gut gemacht!«
Audrey machte einen Schmollmund. »Du hast es verpasst, als ich dran war. Ich hab die Zielscheibe auch einmal getroffen. Ich war sogar dichter an der Mitte als Andrew.«
»Es tut mir leid, dass ich das verpasst habe. Vielleicht versuchst du es noch einmal?«
»Vielleicht will erst einmal Lord Bradley drankommen und uns zeigen, wie es geht?«, schlug Miss Keene mit einem Glitzern in ihren blauen Augen vor.
Er starrte sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Ihr Angebot ist zu gütig, aber ich möchte die Erziehung der Kinder nicht unterbrechen oder was immer das hier ist.«
»Es ist Sport. Gut für Körper und Geist.«
»Komm schon, Cousin Edward. Versuch’s doch einmal«,
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