Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
Schließlich war er zum großen Teil dafür verantwortlich, dass sie sich in dieser Situation befand.
30
Nehmen Sie eine Dame in jedem Sinne des Wortes, vornehm geboren und erzogen, und lassen Sie ihren Vater bankrottgehen, dann fehlt ihr nichts mehr, um dem höchsten Ideal zu entsprechen, das wir von einer Frau haben, die unsere Kinder leiten und unterrichten soll.
Lady Elizabeth Eastlake, Quarterly Review
Nachdem sich Judiths Mutter, ihre Schwiegermutter und ihre frühere Gouvernante verabschiedet hatten, spürte Judith Edward im Billardzimmer auf, wo er ein einsames Spiel genoss.
»Habe ich es dir nicht gesagt!«, rief sie. »Miss Keene ist die Enkelin eines Gentleman mit Landbesitz!«
»Das ist aber etwas anderes als eine preußische Prinzessin, Judith.«
»Trotzdem. Ich wusste, dass mehr an ihr ist, als man auf den ersten Blick meinen könnte.«
»Warum freust du dich so? Sind nicht die meisten Gouvernanten vornehme Damen in einer finanziellen Notlage?«
»Komm, Edward, gib es zu. Du hast nicht mehr von ihr gehalten als von einer Putzfrau, als sie hier ankam.«
Er zuckte die Achseln. »Ihr Großvater gehörte vielleicht zum Landadel und ihre Mutter stammt aus einer vornehmen Familie, aber da sie einen Buchhalter geheiratet hat, ist Miss Keene keine Tochter eines Gentleman.«
»Was für ein Snob du bist, Edward. Wirklich, das überrascht mich.«
Er erstarrte. »Was?«
»Hmm?«, fragte Judith zurück und ließ einen Billardball spielerisch auf dem Filz kreisen.
»Du sagtest, das würde dich überraschen. Und ich möchte wissen, was genau. Dass ich ein Snob bin oder dass Miss Keene die Tochter eines Buchhalters ist?«
Ein Lachen stand in ihren Augen und ein Funken Gereiztheit. »Beides, nehme ich an.« Sie drehte sich um und stürmte aus dem Zimmer.
An diesem Abend setzte sich Olivia auf ihr schmales Bett und drehte wieder einmal den versiegelten Brief hin und her, den sie in der Börse ihrer Mutter gefunden hatte. Sollte sie ihn öffnen? Wenn ihre Mutter tot war, was ein Teil von ihr befürchtete, forderte sie die kurze Anweisung auf dem Umschlag dann nicht dazu auf? Und wenn sie nicht tot war, wie Olivia immer noch hoffte und betete, würde ihr der Inhalt, was auch immer es sein mochte, vielleicht helfen, sie zu finden. Erneut fragte sie sich, ob sie den Brief früher hätte öffnen sollen. Schuldgefühle und Unentschlossenheit brachten sie innerlich ins Wanken. Allmächtiger Gott, was soll ich tun? Was ist das Richtige? Ich möchte mich an ihre Anweisung halten, aber ich will ihr helfen, wenn sie mich braucht …
Ihre Hände bebten, als sie einen Fingernagel unter das Siegel schob und es aufbrach. Sie faltete den Brief auf, nur um darin einen weiteren Umschlag zu finden, der ebenfalls versiegelt war. Er sah wie ein gewöhnlicher Brief aus und war an eine »Mrs Elizabeth (oder Georgiana) Hawthorn« adressiert. Der Name kam ihr bekannt vor. Hatten nicht Mrs Howe und Mrs Bradley darüber gesprochen, dass die Hawthorns die Familie ihrer Mutter waren? Ihre Mutter hatte in all den Jahren selten ihre Verwandten erwähnt und hatte nur gesagt, dass jede Verbindung zwischen ihnen abgebrochen war. Und jetzt schrieb ihre Mutter an ihre Familie einen Brief, der erst nach ihrem Tod zuzustellen war?
Olivia wollte keinen Brief öffnen, der an jemand anderes gerichtet war. Solange sie nicht wusste, was aus ihrer Mutter geworden war, wollte sie ihn jedoch auch nicht einfach abschicken.
Weil sie einen Rat brauchte, suchte sie Lord Brightwell und fand ihn im Garten auf einer Bank, wo er umgeben von knospenden Bäumen und den Osterglocken des frühen Frühlingsabends eine Zigarre rauchte. Sie zeigte ihm sowohl den äußeren als auch den inneren Brief.
»Sie hatten dies die ganze Zeit schon?« Er studierte den äußeren Brief sorgfältig. »Sie muss befürchtet haben, dass ihr etwas zustoßen würde. Verzeihen Sie, meine Liebe – natürlich hoffen und beten wir weiter, dass sie gesund und munter ist.«
Während Lord Brightwell über die Situation nachdachte, betete Olivia für sie beide um Weisheit. Nach einigen Augenblicken legte er die Briefe neben sich. »Gut, es gibt nur eine Lösung. Sie müssen nach Faringdon reisen und sie aufsuchen.«
Olivias Herzschlag beschleunigte sich. »Meinen Sie, sie werden mich empfangen?«
»Ich weiß es nicht. Ich hoffe es. Sie können schließlich nichts für die unglückselige Heirat Ihrer Mutter.«
Die Worte trafen sie hart. Es gefiel ihr nicht, dass er es so
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