Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
bedrängte ihn Andrew. »Ungeschickter als Miss Keene kannst du dich nicht anstellen. Sie hat Mr Croomes Haus getroffen!«
Miss Keenes Wangen liefen rosa an. Mr Croome wandte den Blick ab und kratzte sich am Hals.
»Tatsächlich?«, sagte Edward und konnte sich ein Grinsen kaum verkneifen.
»Wollen wir jetzt schießen oder den ganzen Tag vertrödeln?«, fragte Croome. »Ich muss noch Angelschnüre auslegen und mich um die Eier der Hühner kümmern.«
Edward schluckte. »Na gut, ich werde einen Versuch machen.«
Croome reichte ihm einen anderen, größeren Bogen und dann einen Pfeil. Er studierte Edwards Gesicht mit zusammengekniffenen Augen und es war beunruhigend, dass ihm dabei nichts zu entgehen schien. »Sie haben das noch nie gemacht, oder?«
War das so offensichtlich? »Nein, Sir.«
Croome nickte und sagte mit leiser Stimme: »Legen Sie den Pfeil dort an und halten Sie ihn gerade, beide Augen geöffnet; ziehen Sie die Sehne bis zu Ihrer rechten Schulter zurück, zielen Sie und lassen Sie dann los.«
Edward folgte seinen Anweisungen und die Sehne streifte seine Wange, als er sie los ließ. Der Pfeil traf mit Wucht auf die Zielscheibe, nicht weit von Andrews Pfeil entfernt.
»Nicht schlecht für einen ersten Schuss«, sagte Croome. Er beäugte Edwards brennende Wange. »Sie werden es überleben.«
»Mr Croome«, bat Olivia, »vielleicht könnten Sie uns zeigen, wie es geht, denn ich fürchte, bis jetzt beherrscht es keiner von uns so richtig.«
»Man braucht nur Übung.«
»Wir würden gern sehen, wie Sie schießen, Mr Croome«, sagte Audrey. »Sind Sie sehr gut?«
»Nicht schlecht, aber ich möchte mich hier auch nicht zum Narren machen.«
»Uns macht das nichts aus. Wir wollen Sie sehen«, antwortete Andrew. »Bitte!«
Croome schaute zu Edward hinüber, als warte er auf seine Zustimmung, was ihn erstaunte. »Bitte sehr, Mr Croome«, sagte er.
»Oh ja, tun Sie es!«
»Na gut, ihr kleinen Rangen, und sei es auch nur deshalb, damit ihr aufhört herumzuschreien und mich in Ruhe lasst.«
Croome ging in Stellung und brachte den Pfeil mit einer geschmeidigen Bewegung in Position. Er straffte die Sehne mit einer durch viel Übung gewonnenen Leichtigkeit und zielte. Ein Schwirren, ein Plopp – der Pfeil saß mitten im Schwarzen.
Edward kam zu dem Schluss, dass er diesen Mann nicht zum Feind haben wollte.
Er war überrascht, als ein Vogel über die Lichtung zu ihnen stolzierte, den grauen Hals hoch aufgerichtet und den breiten Bauch von dünnen Beinen gestützt, wie ein hochnäsiger, gut genährter Lakai. Edward, der sich nicht allzu gut mit Geflügel auskannte, hielt das Tier für ein Rebhuhn.
Andrew, der wieder die Zielscheibe ins Visier nahm, schwang den Bogen plötzlich zur Seite, zielte auf das Rebhuhn und gab zwischen zusammengepressten Lippen ein vorgetäuschtes Surren von sich.
Croome packte ihn blitzschnell mit stahlhartem Griff am Arm. »Nein, Master Andrew. Nicht einmal im Spaß!«
Edward ging innerlich unwillkürlich in Verteidigungshaltung zugunsten seines Cousins. Ihm gefiel nicht, wie grob der Mann mit dem Jungen umging. Und das wegen eines wilden Huhns!
Andrew schaute verlegen drein. »Es tut mir leid, Mr Croome. Ich habe nur Spaß gemacht. Ich würde nie auf Bob schießen, niemals!«
Bob? Der Mann hatte ein zahmes Rebhuhn mit Namen Bob ?
Vielleicht war er doch nicht so furchterregend, wie Edward bisher gemeint hatte.
32
Die Zeit, die ich damit verbracht habe, meine Schüler zu vervollkommnen, nimmt nur wenig Raum in meinem Tagebuch ein. Ich hoffe, es wird sich erweisen, dass sie ihnen und mir zum Gewinn war im Buch des Lebens, wo alle Handlungen, Gedanken und Pläne von einer unfehlbaren und gnädigen Hand aufgezeichnet sind.
A Governess in the Age of Jane Austen: The Journals and Letters of Agnes Porter
An diesem Abend stand Edward an der Tür und amüsierte sich über die Szene im Empfangszimmer. Die Teppiche waren zur Seite gerollt und das Lehrbuch eines Tanzmeisters lag aufgeschlagen auf dem Boden. Andrew stand auf einem Stuhl, Auge in Auge mit der Gouvernante, die sich vor ihn hingestellt hatte und seine Hände hielt. Audrey befand sich neben Miss Keene, ein spitzbübisches Grinsen auf dem Gesicht. Auf Miss Keenes Anweisung hob Andrew eine Hand in die Höhe, doch bevor sich Miss Keene darunter drehen konnte, streckte sich Audrey und kitzelte ihren Bruder unter dem Arm. Andrew krümmte sich zusammen und kicherte.
Miss Keene seufzte. Es war offensichtlich nicht
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