Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
ausdrückte, obwohl es die Wahrheit war.
»Soll ich Sie begleiten?«, fragte Lord Brightwell.
»Ich möchte Ihnen keine Umstände machen, Mylord.«
»Es ist vielleicht klug, wenn ich mitkomme. Auch wenn das überheblich klingt – Sie werden dann vermutlich besser aufgenommen.«
Der Diener der Crenshaws nahm Lord Brightwells Karte in Empfang und zog sich dann zurück, um in Erfahrung zu bringen, ob Mrs Hawthorn für Besucher »zu Hause« war. Olivias Puls raste, und in den Handschuhen wurden ihre Handflächen feucht.
Sie hatte sich besondere Mühe mit ihrer äußeren Erscheinung gegeben. Sie trug, in der Hoffnung, dies würde ihr das nötige Selbstvertrauen für die bevorstehende Begegnung verschaffen, Halbschuhe und einen neuen Spenzer 4 , den sie bei Miss Ludlow gekauft hatte, über ihrem dunkelblauen Kleid. Olivia erwartete keinen herzlichen Empfang von dieser Frau, die wohl ihre Großmutter sein mochte, sich aber vor Jahren von ihrer eigenen Tochter abgewandt hatte. Olivia holte tief und bebend Luft und war erleichtert, dass Lord Brightwell darauf bestanden hatte, sie zu begleiten.
Sie wurden in ein formelles Empfangszimmer geführt. Eine zierliche Frau, die Mitte sechzig sein mochte, erhob sich, um sie zu begrüßen, und Olivia stellte erstaunt fest, dass sie etwas Vertrautes an sich hatte. Die Nase der Frau war leicht falkenartig und ihr Gesicht faltig, aber attraktiv. Lord Brightwell verbeugte sich und die Frau deutete nur einen Knicks an – ob ihre Knochen zu steif waren oder ob sie den angemessenen Respekt verweigerte, wusste Olivia nicht.
»Lord Brightwell, sehr erfreut.«
Olivia fragte sich, ob sie erwähnen würde, dass ihre Tochter Dorothea einmal in seiner Familie eine Anstellung gehabt hatte, aber sie tat es nicht.
»Mrs Hawthorn. Danke, dass Sie uns empfangen.«
Beim Wort »uns« warf Mrs Hawthorn ihr einen Blick zu. Olivias Herz setzte einen Schlag lang aus. Ja, da war eine deutliche Ähnlichkeit mit ihrer Mutter vorhanden, an den Augen und den hohen Wangenknochen. Bildete sie sich das nur ein oder war auch die Frau überrascht?
»Darf ich Ihnen Miss Olivia Keene vorstellen?«, sagte Lord Brightwell.
Olivia machte einen tiefen Knicks und als sie sich wieder aufrichtete, stand die Frau immer noch reglos da und musterte sie. Ohne ein Lächeln.
»Mir ist Miss Keene noch nicht begegnet, soweit ich weiß?«
»Nein, Madam«, antwortete Olivia leise.
»Bitte setzen Sie sich.« Auch Mrs Hawthorn nahm wieder Platz.
Lord Brightwell wählte einen Stuhl auf der anderen Seite des niedrigen Tisches, während Olivia sich links von Mrs Hawthorn setzte.
»Nun gut, und welchem Umstand verdanke ich Ihren Besuch?«
Ihre Finger waren plötzlich dick und ungelenk, als Olivia den inneren Brief aus ihrem Pompadour zog und ihn der Frau reichte.
»Was ist das?« Die dünnen, mit Kajal geschwärzten Augenbrauen der Frau hoben sich. Dann studierte sie die Aufschrift mit zusammengekniffenen Augen und Olivia fragte sich, ob sie wohl schlecht sah. Sie drehte den Brief um und sah das Siegel. »Wer hat das geschrieben? Ich gehe davon aus, dass Sie das wissen?«
Olivia nickte, etwas überrascht und enttäuscht, dass die Frau die Schrift nicht erkannt hatte. »Dorothea«, sagte sie nur.
Was für eine Reaktion sie auch erwartet hatte, diese war es nicht. Die Frau warf den Brief von sich, als säße eine giftige Spinne darauf. »Nach all dieser Zeit? Sie schreibt einen Brief und lässt ihn mir durch Fremde zukommen?«
Olivia zog den äußeren Umschlag hervor und reichte ihn ihr. »Er war hierin eingeschlossen.«
Mrs Hawthorn starrte ihn an und brachte ihn dann immer näher an ihr Gesicht, bis ihre Stirn ihn berührte. Als sie die Hände mit dem Papier senkte, sah Olivia Tränen in ihren Augen. Mrs Hawthorn verzog das Gesicht und sagte bitter: »Ich hätte es wissen müssen. Nach über fünfundzwanzig Jahren würde sie in keinem anderen Fall Kontakt mit mir aufnehmen.«
»Wir sind nicht sicher, dass Dorothea … gestorben ist«, erklärte Lord Brightwell. »Aber sie ist verschwunden und wir rechnen mit dem Schlimmsten. Wir hoffen, falls wir uns irren, dass etwas in diesem Brief uns helfen könnte, sie zu finden.«
Die Frau zögerte immer noch.
»Bitte, Madam.« Olivia hob den abgewiesenen Brief auf und reichte ihn ihr erneut.
Mrs Hawthorn schluckte und eine knochige Kugel bewegte sich in ihrem dünnen, faltigen Hals. Sie nahm den Brief entgegen und betrachtete Olivia noch einmal, bevor sie den Blick
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