Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
vornehme Papier. Sie erkannte die Schrift nicht. Wer könnte ihr sonst noch schreiben? Mrs Hawthorn huschte ihr durch den Kopf, aber sie schalt sich sofort für diese törichte Hoffnung.
Sie brach das Siegel auf, entfaltete den Brief und schaute sofort auf die Unterschrift. Er war tatsächlich von ihrer Großmutter.
Liebe Miss Keene,
bitte vergeben Sie mir die Verzögerung. Dies ist mein fünfter Versuch, diesen Brief zu verfassen.
Ich habe sehr intensiv über Ihren Besuch nachgedacht. Tatsächlich kann ich kaum mehr an etwas anderes denken, außer wenn ich mir manchmal Sorgen mache, was Dorothea zugestoßen sein könnte. Sie halten es vielleicht herzlos von mir, an Sie zu denken, statt meine Tochter zu betrauern, aber Sie müssen wissen, dass ich ihren Verlust vor über fünfundzwanzig Jahren betrauert habe, als sie mir schrieb, dass sie einen Mann geheiratet hatte, den ich weder billigen noch akzeptieren konnte. Sie sagte, sie wüsste, dass sie keine zukünftigen Beziehungen zwischen uns mehr erwarten könne, und habe beschlossen, mir die Mühe abzunehmen, unsere Verbindung zu kappen. Ich gestehe, dass ich trotzdem immer die Hoffnung hatte, sie würde eines Tages wieder Kontakt zu mir aufnehmen und mich wissen lassen, wo sie lebte und mir zumindest sagen, dass es ihr gut ging. Einen solchen Brief aus Ihrer Hand zu erhalten, war ein ziemlicher Schock.
Als meine Tochter Georgiana vom Einkaufen zurückkam, saß ich immer noch dort, wo Sie mich verlassen hatten, den Brief in der Hand. Sie bedrängte mich, ihr zu erzählen, was an diesem Tag vorgefallen war, und war recht ärgerlich darüber, dass ich Sie nicht gebeten hatte, wenigstens so lang zu bleiben, dass sie Sie selbst kennenlernen konnte.
Ich bedaure es, Sie nicht herzlicher empfangen zu haben, meine Liebe. Erweisen Sie uns bitte die Ehre, uns noch einmal zu besuchen?
Mrs Elizabeth Hawthorn
Als Olivia den Namen der Frau in ihrer eigenen Handschrift sah, zog sich ihr Herz stärker zusammen, als es vor ihrer Begegnung mit Mrs Hawthorn je passiert war. Elizabeth. Ihr eigener Name war Olivia Elizabeth. Hatte ihre Mutter sie nach ihrem Vater und ihrer Großmutter genannt?
In einer anderen Schrift, großzügig und verspielt, stand ein Zusatz unter der akkuraten, förmlichen Handschrift ihrer Großmutter:
Bitte kommen Sie, Olivia. Was für eine Vorstellung – ich habe eine Nichte!
Ihre Tante,
Georgiana Crenshaw
(Mr Crenshaw sagt, Sie sind herzlich willkommen.)
Unwillkürlich lächelte Olivia und fühlte sich zu dieser quirligen Tante hingezogen, der sie noch nie begegnet war.
Edward und Lord Brightwell waren unterwegs zum Empfangszimmer, um Felix zu begrüßen, der zu einem Wochenendbesuch nach Brightwell gekommen war. Dass Judith schneller gewesen war als sie, erkannten sie daran, dass ihre Stimme durch die offene Tür in den Gang hinausdrang.
»Wie läuft es in Oxford?«, fragte sie.
Edward betrat den Raum und sah, wie Felix die Schultern zuckte. Er nahm die Frage auf. »Ja, Felix, was macht das Studium?«
»Studium? Ach, das ist der Grund, warum ich in Oxford bin? Ich dachte, ich wäre dort zum Rudern und Singen und um die Damen zu beeindrucken.«
»Natürlich, das auch«, erwiderte Edward gutmütig.
Felix suchte sich eine Zigarre aus der hölzernen Kiste auf der Anrichte aus und ließ sie in seine Tasche gleiten. Denn bediente er sich an der Portweinkaraffe.
Lord Brightwell setzte sich und bat Felix, ihm ebenfalls ein Glas einzuschenken. »Felix, ich bezahle deinen Aufenthalt an meiner alten Alma Mater gern, aber ich hatte schon die Hoffnung, dass du dich ein bisschen anstrengen würdest.«
Felix seufzte und reichte dem Earl ein Glas. »Ich fürchte, ich muss dich enttäuschen, Onkel. Mir scheint, der Erfolg liegt außerhalb meiner Reichweite. Ich habe beste Lust, die ganze Sache hinzuwerfen.«
»Was?«, rief Edward und versuchte vergeblich, nicht so scharf zu klingen.
Felix warf die Hände in die Höhe. »Spielt das wirklich eine Rolle? Niemand hat jemals viel von mir erwartet. Erzähl mir nicht, du rechnest damit, dass ich eine brillante Karriere als Jurist, Pfarrer, Politiker oder irgendetwas mache. Es ist lächerlich.«
»Nein, ist es nicht«, gab Edward zurück.
»Warum?«
»Warum?« Edward geriet ins Stocken und spürte Judiths neugierigen Blick auf sich. »Weil … nun ja, man weiß nie, was die Zukunft bringen wird, und …«
Sein Vater kam ihm zu Hilfe. »Und die Bradleys haben sich an der Universität immer hervorgetan. Sogar dein
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