Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
Geistlichen gehört hatte, und bezweifelte, dass es jetzt anders sein würde.
Erst nachdem sie und Lord Brightwell die Hauptstraße überquert hatten, fiel Olivia auf, dass sie ihren Vater nicht gefragt hatte, ob er von dem Haftbefehl gegen ihn wusste.
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Die Damen, die aufgrund des Unglücks ihrer Familien dazu gezwungen werden, ein glückliches Heim und liebevolle Verwandte gegen die Gesellschaft von Fremden zu tauschen, sind Gegenstand besonderen Mitgefühls.
Advice to Governesses, 1827
Tagelang ging Olivia die Begegnung mit ihrem Vater im Kopf herum und sie ließ alles noch einmal vor ihrem inneren Auge ablaufen – was sie ihm hätte sagen sollen, welche Fragen sie hätte stellen sollen, auf welchen Wahrheiten sie hätte bestehen müssen. Nachdem sie sich mehrere Nächte lang schlaflos damit herumgequält hatte, beschloss Olivia, am positiven Aspekt dieses Treffens festzuhalten. Simon Keene glaubte ihre Mutter am Leben. Und Olivia würde sich Mühe geben, es auch glauben zu können.
An ihrem nächsten Halbtag verbrachte Olivia den Nachmittag bei Eliza Ludlow in ihrem Geschäft, und es gelang ihr ganz überzeugend, das Zusammensein zu genießen.
Als sie nach Brightwell Court zurückkehrte, warteten dort zwei Briefe auf sie. Der eine trug keinen Absender. Der andere war in der eleganten, geschwungenen Schrift von Miss Cresswell adressiert. Olivia öffnete zuerst den Brief ihrer früheren Lehrerin, zu zwei Dritteln gespannt, zu einem Drittel mit Grausen. Hatte Miss Cresswell von ihrer Mutter gehört? Von Muriel Atkins, der Hebamme?
Meine liebe Olivia,
Muriel ist endlich zurückgekehrt. Nach der Geburt auf dem Land reiste sie offenbar direkt zu ihrer Nichte nach Brockworth, deren Zeit zu früh kam. Es war eine lange und schwere Geburt (Zwillinge – beide leben, Gott sei Dank) und ich habe Muriel selten so erschöpft gesehen.
Als ich ihr von Ihrem Besuch erzählte, sagte sie, ich solle Ihnen im Vertrauen mitteilen, dass Ihre Mutter nicht auf dem Friedhof liegt. Ist das nicht eine gute Nachricht? Ich soll es niemandem außer Ihnen erzählen. Muriel fürchtet, dass jemand Ihrer Mutter etwas antun will. Wenn diese Person glaubt, sie sei möglicherweise, nun ja, tot, ist das umso besser. Sie wollte nicht sagen, um wen es geht, aber Ihre Vermutung deckt sich bestimmt mit meiner. Für mich hört sich das nach einem verzweifelten Plan an, wenn sie zulässt, dass ihre eigene Tochter eine solche Tragödie glaubt.
Meines Wissens wurde Ihre Mutter krank und blieb den Winter über bei Muriels Schwester, aber seither hat sie sich wieder völlig erholt. Trotzdem bleibt Muriel fest dabei, dass sie nicht weiß, wo Ihre Mutter jetzt ist oder wie es ihr geht. Sie hofft nur, dass die List wirklich dazu genützt hat, Schaden von Ihrer Mutter abzuwenden. Aber da bis jetzt kein Brief gekommen ist, befürchtet sie langsam, dass das nicht gelungen ist. Trotzdem hoffen sie und ich jeden Tag auf eine Nachricht von unserer lieben Freundin Dorothea.
Ich fürchte, meine zweite Neuigkeit werden Sie nicht so gern hören. Ihr Vater wurde gefunden und verhaftet. Wie die Anklage lautet, ist immer noch nicht bekannt geworden, aber es gibt viele Gerüchte.
Bitte schreiben Sie mir, damit ich weiß, ob es Ihnen gut geht. Ich bete, dass Gottes Frieden Ihnen durch diese unsichere Zeit hilft.
Miss Lydia Cresswell
Verhaftet? Er musste vom Armenhaus direkt nach Withington gereist sein. Erneut fragte Olivia sich, wie die Anklage gegen ihren Vater lautete und ob er sich tatsächlich schuldig gemacht hatte. Sie fühlte ein überwältigendes Auf und Ab widersprüchlicher Emotionen, von rachsüchtiger Befriedigung (hatte er es nicht verdient, dass ihm sein gewalttätiger Angriff heimgezahlt wurde?) über Beschämung, dass ein Elternteil von ihr im Gefängnis saß, bis hin zu unerwartetem Mitleid, als sie daran dachte, in welch gebrochenem Zustand sie ihn zuletzt gesehen hatte. Wie merkwürdig erschütternd es gewesen war, sein Bekenntnis zu hören, dass er nicht ihr Vater war. Es hätte eine Erleichterung sein müssen – vor allem jetzt nach Miss Cresswells Neuigkeiten. Stattdessen fühlte sie sich leer. Emotional bankrott. Sie dachte an Mr Tugwells Worte zurück, dass ein Mensch nicht in der Lage war, für seine eigenen bösen Taten zu sühnen, und fühlte sich auch im religiösen Sinn bankrott. Denn hatte sie nicht auch eigene Vergehen zu verantworten?
Olivia musterte die Außenseite des zweiten Briefs, bemerkte das elegante Siegel und das
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