Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
Wir haben Verstecken gespielt und –«
»Nein, Miss, er ist nicht hier.«
Erleichterung überschwemmte sie. Der Kutscher schlang ein Seil um den Hals eines grauen Wallachs und zerrte das angsterfüllte Tier mehr oder weniger aus dem Stall. Wenn nur Lord Bradley bald von seinem Morgenritt zurückkäme!
»Audrey, lauf ins Haus und suche Lord Brightwell«, befahl Olivia. »Und frag jeden, der dir begegnet, ob er Andrew gesehen hat.«
Das Mädchen huschte gehorsam davon.
Johnny kam aus Richtung des Waldes angerannt, eine verlegene Martha folgte ihm.
»Hat einer von Ihnen Andrew gesehen?«, rief Olivia.
»Nein«, antwortete Martha mit weit aufgerissenen Augen. Und sie lief los, um nach ihm zu suchen, während Johnny Talbot zu Hilfe eilte.
Irgendetwas zwang Olivia, an Ort und Stelle zu bleiben. Sie hörte ein erschrockenes Wiehern und dann ein weiteres. Mit lautem Krachen wurde das Stalltor nach außen aufgebrochen, niedergetreten von den Hinterhufen eines großen Rappen.
Lord Bradley war nicht reiten gegangen, wie sie angenommen hatte. Wo war er?
Instinktiv rannte Olivia vorwärts, wich den gefährlichen Hinterbeinen des Pferdes aus und versuchte das Pferd mit fester Hand und sanften Worten zu beruhigen, wie an jenem Tag, als sie es gestriegelt hatte. Das Pferd bäumte sich auf und schlug mit dem Kopf an die Deckenbalken, offenbar durch den Rauch völlig desorientiert und zu verängstigt, um auf ihr Zureden zu achten.
Lord Bradley tauchte durch den Rauch auf und warf dem Pferd mit einer geschickten Handbewegung eine Haube über den Kopf. »Major, geh los!« Und mit großer Wucht stieß er das Pferd durch das zerstörte Tor und in den Hof hinaus.
Über seine Schulter rief er zurück: »Miss Keene, kommen Sie von hier weg!«
»Nicht, bis ich weiß, dass Andrew in Sicherheit ist. Er hat sich versteckt und wir haben ihn nicht gefunden. Haben Sie ihn gesehen?«
Talbot befreite das letzte Pferd und sagte finster: »Ich hab Ihnen gesagt, dass er nicht hier war, Miss. Ich hab den Stall, das Dienstzimmer und die Sattelkammer durchsucht.« Der Kutscher warf die Hände hoch. »Jetzt sollten Sie beide von hier verschwinden, bevor das Dach über uns zusammenbricht.«
Olivia und Lord Bradley drehten sich ruckartig um, um sich anzusehen, und ihre Blicke verfingen sich. Der gleiche Gedanke – die gleiche Angst – machte sich in ihnen breit. Die kleine geheime Kammer. Was, wenn Andrew sich dort versteckt hatte?
Olivia stürmte vor, doch Lord Bradley packte sie am Arm. »Talbot, halten Sie sie zurück.«
Der Kutscher trat vor und fasste sie an den Oberarmen. Lord Bradley schlüpfte aus seiner Jacke, hielt sie sich vor Nase und Mund und verschwand im Rauch.
Olivia wehrte sich gegen Talbot. »Lassen Sie mich los!« Jedes mütterliche Gefühl ergriff von ihr Besitz und schaltete sogar den Selbsterhaltungstrieb aus. Ein kleiner Junge, ihr Zögling, wurde vielleicht in diesem Moment von Rauch überwältigt. »Lassen Sie mich zu ihm gehen. Lassen Sie mich los.«
Die drahtige Kraft des Kutschers erlahmte keinen Augenblick und sie konnte es nicht mit einem Mann aufnehmen, der Pferde beherrschte, die sechs oder sieben Mal so viel wogen wie sie.
Oh Gott, bitte. Das ist meine Schuld. Oh bitte, bewahre sie beide!
Schwarz und grau kam ihnen der Rauch entgegen. Mit einem lauten Krachen brachen die gegenüberliegende Wand und das Dach ein – der Bereich, in dem Heu und Stroh gelagert waren. Die Flammen schossen durch die Öffnung und der Rauch stieg immer höher. Von allen Seiten kamen jetzt Menschen angerannt, Mr Croome der Erste unter ihnen. Hinter ihm stellten sich Hodges, Osborn, Mrs Moore, Mrs Hinkley, der Gärtner, der Laufbursche und die Dienstmädchen als Löschtrupp in einer Schlange zum Brunnen im Garten auf. Mit grimmigem Blick schütteten die Menschen einen Eimer Wasser nach dem anderen in das gierige Feuer. Doch Olivia konnte erkennen, dass es zwecklos war. Sie ließ den Blick über die wachsende Menge schweifen, doch nirgendwo war der vertraute kleine braune Haarschopf zu sehen. Und keine großen braunen Augen. Jetzt rannte Lord Brightwell aus dem Haus. Und dort wurde Judith von Audrey mitgerissen. Das Gesicht des Mädchens war angstverzerrt. Olivias Herz raste. Kein Andrew.
Lord Brightwell erreichte sie als Erster. »Sind die Pferde alle draußen? Der Stallknecht?«
Hinter ihr antwortete Talbot: »Es sind alle da, mein Herr.«
Der Earl schaute den Kutscher an, der Olivia immer noch festhielt, dann sah er
Weitere Kostenlose Bücher