Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
Osborn da sein.
Vor der Tür blieb sie stehen, hörte aber nichts. Um ihn nicht zu wecken, falls er schlief, klopfte Olivia ganz vorsichtig. Als keine Antwort kam, holte sie tief Luft und schob die Tür ein paar Zentimeter weiter auf. Sie würde nur einen Blick auf ihn werfen. Wenn er schlief, würde sie nur sichergehen, dass er atmete, und dann weghuschen. Nur kurz hinein und gleich wieder weg. Und wenn Osborn dort war, würde sie … was? Irgendeine Ausrede erfinden – dass Audrey nicht schlafen könne, ohne sicher zu wissen, dass es Lord Bradley gut ging? Sie log ungern, aber sie wollte auch nicht, dass am nächsten Morgen die gesamte Dienerschaft über sie tratschte.
An der Schwelle zögerte Oilvia. Einige Kerzen brannten, doch sie konnte niemanden sehen. Ein schwarz-golden lackierter chinesischer Wandschirm stand mitten im Raum und verdeckte ihr die Sicht.
Ein Kichern ertönte aus dem Gang und Olivia wandte den Kopf. Am anderen Ende des dunklen Korridors sah sie, wie der hochmütige Osborn, Lakai und Kammerdiener, Doris gegen die Wand drückte und küsste.
Geräuschlos trat Olivia einen Schritt vor. Als sie die Tür ein Stück weiter öffnete, sah sie den Teekessel daneben stehen. Sie hob ihn hoch und betrat vorsichtig das Zimmer.
»Wo waren Sie so lange, Osborn?«, murmelte Lord Bradley dumpf.
Etwas an seiner Stimme beunruhigte sie und sie bewegte sich leise vorwärts, ohne sich zu erkennen zu geben. Den Kessel in der Hand – den Osborn wahrscheinlich bringen wollte, als Doris ihm auflauerte – spähte sie hinter den Wandschirm, in der Annahme, Lord Bradley würde dort auf seinen Tee warten. Sie blieb abrupt stehen und unterdrückte einen Aufschrei.
Er saß in der Badewanne, den Kopf an den hohen Rand gelehnt, eine große Bandage über den Augen. Schwarze Rußreste hingen an seinem markanten Kinn und in den Lachfältchen um den Mund herum. Seine linke Hand war ebenfalls bandagiert. Sie hing über den Rand der Wanne und wurde von einem Stuhl gestützt, der offenbar zu diesem Zweck neben die Wanne gestellt worden war.
Ihr Blick wanderte von seiner verbundenen Hand über seinen muskulösen Unterarm zur Schulter hoch. Auf seiner breiten Brust glänzten goldene Haare. Olivia spürte, wie sie rot wurde. Ihr Herz dröhnte wie eine tiefe Basstrommel.
»Lassen Sie mich wissen, wenn eine Stunde vergangen ist. Ich möchte diesen stinkenden Umschlag möglichst bald loswerden.« Seine Stimme war ungewöhnlich schleppend, und sie fragte sich, wie viel Laudanum der Arzt ihm verabreicht hatte. Olivia war dankbar, dass seine Augen bedeckt waren und dass niemand sehen konnte, wie ihr ganzes Gesicht brannte.
Er schnaubte. »Wenn Sie darauf bestehen, mein Haar noch einmal zu waschen, legen Sie los. Ich könnte zwei Wochen lang schlafen.«
Olivias Mund fühlte sich plötzlich wie ausgetrocknet an.
Sein Haar musste noch einmal gewaschen werden – der sonst so helle Farbton war durchzogen von aschgrauen Strähnen. Wie würde es sich anfühlen, es zu waschen? Mit den Fingern in die glatten blonden Haare zu greifen? Sie stellte es sich vor und stieß bebend die Luft aus.
Er hob den Kopf und runzelte die Stirn. »Osborn?«
Ertappt. Sie blieb reglos stehen und erwartete, dass jeden Moment der Umschlag herabrutschen und er sie schockiert und empört über ihr plumpes Eindringen anstarren könnte. Vor lauter Angst stellte sie platschend den Kessel ab und floh aus dem Zimmer.
Den ganzen nächsten Morgen machte Olivia sich Vorwürfe. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, sein Schlafzimmer zu betreten! Von Audrey hatte sie erfahren, dass Lord Bradley schon wieder auf den Beinen war. Das war zumindest eine gute Nachricht. Trotzdem war es später Nachmittag, bis sie sich schließlich ein Herz fasste und zu seinem Studierzimmer hinunterging. Würde er sie nicht für äußerst undankbar und seinem Wohlbefinden gegenüber gleichgültig halten, wenn sie das nicht täte? Würde es nicht seinen Verdacht über den gestrigen schweigenden Besucher bestätigen, wenn sie ihm fernbliebe? Sie drückte sich die Hand gegen die Brust, um ihr pochendes Herz zu beruhigen, und klopfte an die Tür.
»Herein.«
Sie wischte sich die feuchten Hände am Rock ab, drückte die Tür auf und trat ein.
»Ah, Miss Keene …« Lord Bradley, der an seinem Schreibtisch saß, legte den Brief weg, den er gerade gelesen hatte. Seine Jacke hing ihm über eine Schulter, der verletzte Arm lag nicht in der dafür vorgesehenen Schlinge.
»Mylord.« Sie
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