Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
knickste leicht und ärgerte sich über die Hitze, die sich auf ihrem Gesicht ausbreitete. Denn obwohl er jetzt vollständig angezogen war, sah sie ihn unwillkürlich so vor sich, wie sie ihn zuletzt vor Augen gehabt hatte.
»Sie wollten mich … noch einmal sehen?«, fragte er. War da ein Funkeln in seinen blauen Augen oder bildete sie sich das ein?
Sie leckte sich die trockenen Lippen. »Ich wollte mich vergewissern, dass es Ihnen gut geht.«
»Und jetzt, wo Sie mich … vollständig … gesehen haben, was sagen Sie da?«
Sie spürte, wie ihr die Hitze im Nacken hochstieg, obwohl sie ihn nicht – sie wiederholte es für sich – nicht vollständig gesehen hatte. Er wusste es also. Oder war sich ziemlich sicher. Sie würde ihm nicht die Befriedigung schenken, es zuzugeben.
Seine Augen wanderten mit unverhohlener Belustigung über ihr brennendes Gesicht und ihre nervösen Hände.
Sie legte die zappligen Hände fest an ihren Körper und räusperte sich. »Ja, also … ich wollte Ihnen danken, dass Sie Andrew so mutig gerettet haben.«
»Das habe ich ausgesprochen gern gemacht«, antwortete er. Er stand auf, ging um den Schreibtisch herum und lehnte sich dagegen. »Obwohl ich nicht ganz verstehe, warum Sie es für nötig halten, sich dafür zu bedanken.«
»Sie wissen, dass ich Andrew von Herzen liebe, und wenn ihm etwas zustieße … Und natürlich fühle ich mich auf schreckliche Weise verantwortlich, weil ich es zugelassen habe, dass er allein weggelaufen ist.«
Er nickte. »Es ist beklagenswert, dass Andrew von Ihrem geheimen Versteck erfahren hat und dass Talbot nichts davon wusste, als er ihn suchte, sonst wäre dies hier« – er hob seinen verbundenen Arm – »wahrscheinlich vermeidbar gewesen.«
Beschämt senkte sie den Kopf.
»Andererseits hätte ich mir dann Ihre Dankbarkeit nicht verdient.«
Sie blickte ihn an, unsicher, ob er es ernst oder sarkastisch meinte. »Wenn Sie den Wunsch haben, mich zu entlassen, verstehe ich das, und werde sofort abreisen.«
Er verschränkte die Arme, zuckte zusammen und ließ sie wieder fallen. »Ich halte das kaum für nötig. Ich bin auch nicht bereit, mich von Ihnen zu trennen. Judith war verärgert, das weiß ich, aber das wäre jede Mutter – und jede Stiefmutter – gewesen. Etwas von ihrem Zorn ist verraucht, als sie erfuhr, dass ihr lieber Bruder wahrscheinlich für den Brand verantwortlich ist – obwohl Felix das natürlich nicht zugibt.«
Er seufzte. »Auf jeden Fall war es ein unglücklicher Zufall. In der Zwischenzeit werden wir die Pferde bei den Lintons unterbringen, die dies freundlicherweise angeboten haben, und den Stall wieder aufbauen. Ich persönlich freue mich auf das Projekt und plane ein paar Verbesserungen und Erweiterungen, obwohl es mir leid getan hat, das Werk unseres alten Verwalters zerstört zu sehen.«
Olivia betrachtete ihn genauer. »Meinen Sie, Sie werden das schaffen? Wie kommen Sie zurecht? Schmerzt Ihr Arm Sie nicht?«
»Nicht der Rede wert. Er tut ein bisschen weh, ist aber nicht gebrochen, wie Sutton zuerst befürchtete. Die Finger jucken wie verrückt von der grässlichen Salbe, die er aufgetragen hat. Aber abgesehen davon ist alles in Ordnung.«
»Und was ist mit Ihrem Gesicht?«
Er schnitt eine Grimasse. »Sagen Sie es mir. Ich habe es gewagt, in den Spiegel zu schauen und fand mich lächerlich mit diesen versengten Brauen und der geschwollenen Nase. Die wurde mir schon als Junge verbogen und jetzt hat sie noch einmal etwas abbekommen.«
»Sie sehen … gut aus, finde ich.« Sie sprach schnell weiter. »Und was ist mit Ihren Augen?«
»Mein Sehvermögen scheint unbeeinträchtigt, Gott sei Dank.« Er musterte sie. »Ich glaube sogar, ich sehe jetzt deutlicher als je zuvor.«
Sie schluckte. »Tatsächlich?«
Er hielt ihren Blick noch einen Moment länger fest. Blaue Augen starrten in blaue Augen, und in seinen leuchtete etwas Unergründliches auf. »Oh ja.«
39
Zwischen einer Gouvernante und einem Gentleman gab es keine ungezwungene Aufmerksamkeit, Anziehung oder Koketterie, denn sie war ihm sozial nicht gleichgestellt.
M. Jeanne Peterson, Suffer and Be Still
Am Montagnachmittag trat Edward nach draußen, um Judith willkommen zu heißen, die mit der Kutsche von einem Besuch bei ihrer Mutter zurückkehrte. Sie nahm seinen unverletzten Arm und zusammen schlenderten sie kameradschaftlich über den Hof. Die Frühlingsluft war einladend warm und sie gingen in einem langsamen Schritt.
Miss Keene und das
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