Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
Bradley – war mein Vater?«
Der Earl nickte. »Ja, das glaube ich.«
In Edwards Kopf drehte sich alles. Er war also doch ein Bradley. Trotzdem unehelich. Trotzdem nur rechtmäßiger Erbe von Schande und der unverdienten Liebe seines Pflegevaters.
Er dachte an alles zurück, was er über Sebastian Bradley wusste, der seit sechs oder sieben Jahren tot war.
Er war sich natürlich der langen Feindschaft zwischen Lord Brightwell und seinem Bruder bewusst. Obwohl Oliver der ältere Sohn und der Erbe ihres Vaters gewesen war, hatte er Sebastian nicht sich selbst überlassen, wie es vielleicht klüger gewesen wäre. Er hatte ihm ein Haus in London zur Verfügung gestellt, ihn mit Dienern, einer Kutsche und Pferden versorgt. Das meiste davon hatte Sebastian verspielt oder Geldeintreibern geschuldet. Oliver verlor allen Respekt vor dem jüngeren Bruder. Die Spielsucht war nicht Sebastians einzige Sünde. Er war damals mehr als einer jungen Frau zum Verhängnis geworden, was zur Folge gehabt hatte, dass Geldsummen bezahlt und Vereinbarungen getroffen werden mussten.
Der Earl hatte sich überrascht gezeigt, als Sebastian seine Verlobung mit einer achtbaren Frau verkündete. Er war sogar mit dem Hut in der Hand zu Oliver gekommen und hatte sich als veränderten Menschen bezeichnet. Und Oliver war nur zu bereit gewesen, ihm zu glauben.
Kurz nach seiner Hochzeit mit Marian Estcourt lud Oliver seinen Bruder und seine Schwägerin nach Brightwell Court ein. Sie kamen in jenem Sommer und dann noch einmal im Herbst zu Besuch, wobei sie ihre kleine Tochter Judith und ihr Kindermädchen mitbrachten.
Aber dieser Besuch im Herbst sollte sich als der letzte für Sebastian erweisen. Ihm war das Betreten von Brightwell Court von da an verwehrt, während seine Frau und Judith und später auch Felix nach wie vor willkommen waren. Der Grund wurde nie deutlich genannt. Ein Zerwürfnis wurde angenommen, eine Auseinandersetzung über die Begleichung zu hoher Spielschulden … irgendetwas in der Art.
Jetzt wurde Edward klar, dass mehr dahinter steckte.
»Ich traf Sebastian eines Abends, als er aus dem Untergeschoss kam«, begann der Earl. »Sein Gesicht war zerkratzt und seine Kleidung zerzaust. Er schien einen Schrecken zu bekommen, als er mich sah, aber er erholte sich schnell davon. Ich fragte, was er dort unten zu suchen gehabt habe und er redete sich heraus, er habe etwas Essbares gesucht, obwohl er sich ohne Weiteres von einem Dienstboten ein Tablett hätte bringen lassen können. Ich erkundigte mich auch nach seinem Gesicht. Er sagte, er müsse sich im Wald oder sonstwo ein paar Kratzer zugezogen haben. Ich glaubte ihm nicht.
Als er nach oben verschwunden war, um sich schlafen zu legen, ging ich in die Küche hinunter und traf dort auf Croomes Tochter. Sie saß neben dem heruntergebrannten Feuer, das Gesicht in den Händen, die dünnen Schultern bebten.
Ich gebe zu, ich wäre am liebsten umgekehrt, aber die Pflicht verlangte es von mir, dass ich mit ihr sprach. Ich hoffte, mein Verdacht würde sich als unbegründet erweisen, und dass sich Sebastian wirklich im Wald gekratzt hätte.
Das Mädchen zuckte zusammen, als sie mich sah. Als ich sie fragte, was los war, starrte sie mich nur an, offenbar fassungslos oder erschüttert. Ich trat einen Schritt näher, hob die Lampe, um ihr Gesicht besser sehen zu können, und fragte, ob ihr nicht gut sei. Ich erinnere mich, wie weit ihre Augen offenstanden, und in ihnen erkannte ich einen inneren Kampf, obwohl mein Gedächtnis vielleicht durch spätere Enthüllungen gefärbt ist.
Um sie zu ermutigen, sagte ich, ich sei mit ihrem Vater bekannt, einem höchst vertrauenswürdigen Mann. Aber bei der Erwähnung von Mr Croome füllten sich ihre Augen erneut mit Tränen. Sie versicherte mir, es gehe ihr gut. Sie sei wegen einer Kleinigkeit tatsächlich traurig gewesen, aber es sei jetzt wieder besser. Es war keine sehr überzeugende Vorstellung.
Ich verließ die Küche schweren Herzens und sagte mir, ich hätte meine Pflicht getan und dem Mädchen die Möglichkeit gegeben, meinen Bruder anzuklagen, aber sie hatte es nicht getan. Vielleicht war doch nichts so Schlimmes passiert. Warum hatte sie es verschwiegen, wenn er ihr etwas angetan hatte? Hatte sie solche Angst vor ihrem Vater – fürchtete sie, er würde ihr die Schuld an der Missetat geben? Vielleicht war das Mädchen als leichtfertig bekannt.
Mit dieser dürftigen Rechtfertigung verdrängte ich die Szene aus meinem Bewusstsein. Erst
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