Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
zu der Bande, die uns den ganzen Sommer durch die Lappen gegangen ist. Ist das keine gute Nachricht, Mylord?«
Edward ignorierte den Ablenkungsversuch des Mannes. »Die nächste Sitzung findet erst in zwei Wochen statt und es steht außer Frage, eine frühere Anhörung anzuberaumen. Mein Vater verlässt morgen früh das Land, und Farnsworth ist bereits auf dem europäischen Festland. Wenn der Frau in einer halben Stunde so etwas zustoßen kann, was würde dann in einer Woche aus ihr werden?«
»Ich hab vor, sie nach Northleach hochzuschicken. Sollen sich doch die Friedensrichter dort um sie kümmern.«
Hackam meinte das neue Gefängnisgebäude – eine festungsähnliche Haftanstalt, die erst ungefähr so alt war wie Edward selbst. Gegenüber den früheren Gefängnissen, in denen Männer und Frauen zusammen untergebracht waren, stellte sie eine Verbesserung dar, aber es war trotzdem eine Strafanstalt. »Das wird nicht nötig sein.«
»Natürlich ist es das. Ihr Bediensteter sagte, sie hätte sich widerrechtlich auf Ihrem Besitz herumgetrieben und wäre vielleicht eine Diebin.«
Die junge Frau schwankte und Hackam verstärkte seinen Griff.
»Gibt es irgendeinen Beweis, dass sie etwas stehlen wollte?«, fragte Edward. Er wusste, dass unbefugtes Betreten ein geringfügiges Vergehen darstellte, wenn es nicht mit Diebstahl, Schädigung des Landes oder Verletzung einer Person verbunden war. Konnte jedoch nicht auch ein großer Schaden durch ihr Lauschen entstehen? Ganz zu schweigen von den Auswirkungen, die es für seinen Vater hätte, wenn seine Täuschung öffentlich bekannt würde?
»Nun ja, sie war kein geladener Gast, nicht wahr? Was sonst hätte sie dort vorhaben sollen?«
»Das wüsste ich auch gern.« Edward wandte sich der blassen Frau zu. »Wie heißen Sie?«
Sie öffnete ihren Mund, um zu antworten, und ihre zierlichen Lippen formten ein lautloses O. Sie zuckte überrascht zusammen, ihre leuchtenden blauen Augen füllten sich mit Tränen und sie griff sich mit feingliedrigen Fingern an die Kehle, die sich zusehends verfärbte.
Konnte sie wirklich nicht sprechen oder war sie eine vollendete Schauspielerin?
»Ich könnte sie am Pranger auspeitschen lassen«, schlug der Wachtmeister leutselig vor. »Das würde ihr die Zunge lösen.«
Die ohnehin blasse Frau wurde beinahe weiß wie ein Leichentuch.
»Oder wir könnten sie auf der Dorfwiese in den Stock schließen. Als abschreckendes Beispiel für andere etwaige Diebe.« Der Wachtmeister schaukelte auf den Fersen hin und her, während er weiter nachdachte. »Oder auf den Tauchstuhl setzen und untertauchen. Diesen Apparat hab ich seit meiner ersten Amtszeit nicht mehr benutzt.«
Die Frau riss die Augen weit auf, dann verschleierte sich ihr Blick. Ihr Körper wurde steif. Mit offenen, jedoch blinden Augen fiel sie nach vorne, bevor Edward erfassen konnte, was geschah. Hackams Griff reichte nicht aus, um ihr Fallen zu verhindern, und so sackte sie auf dem Boden zusammen.
Als Olivia einige Zeit später wieder zu Bewusstsein kam und unter den Wimpern hervorspähte, stellte sie fest, dass ein bebrillter mittelalter Mann gebeugt über ihr stand. Sie schrak instinktiv zurück und merkte erst in diesem Moment, dass sie flach auf dem Rücken lag, während er neben ihr saß und auf sie herabschaute. Er berührte ihre Kehle mit sanften tastenden Bewegungen. Ein Apotheker, nahm sie an. Oder ein Arzt. Sie schloss ihre Augen wieder und lauschte auf die Unterhaltung über ihr.
»So eine Verletzung könnte in der Tat zu einem zeitweiligen Verlust der Sprachfähigkeit führen. Haben Sie Grund zu der Annahme, dass ihre Stummheit nur vorgetäuscht ist?«
»Sie wurde dabei erwischt, wie sie unerlaubt unser Landgut betreten hat.« Das war Lord Bradleys Stimme.
»Heute Abend waren sehr viele Menschen in Brightwell Court. Warum halten Sie ihre Absichten für frevelhaft?«
Lord Bradley gab keine Antwort. Stattdessen fragte er: »Kann sie transportiert werden?«
»Ich denke schon. Es scheinen keine Knochen gebrochen zu sein. Auf jeden Fall habe ich ihr Laudanum verabreicht. Die Verletzung am Hals muss furchtbar schmerzhaft sein.«
»Transportiert, Mylord?«, erklang die ungläubige Stimme des Wachtmeisters. »Wohin denn?«
»Es ist doch offensichtlich, dass ich sie nicht hier lassen kann, Hackam. Und ich wünsche auch nicht, dass sie nur wegen unerlaubten Betretens nach Northleach gebracht wird. Geben Sie sie fürs Erste in meinen Gewahrsam.«
Hackam hob die Stimme.
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