Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
zwingend notwendig, dass ich erfahre, wer sie ist und ob sie das, was sie möglicherweise belauscht hat, zu gewinnsüchtigen Zwecken zu nutzen beabsichtigt.«
»Du liebe Güte, Edward. Was ist los?«
»Vergeben Sie mir, Charles. Ich habe nicht die Freiheit, das zu erklären.«
Die Augenbrauen seines Freundes hoben sich. »Nicht einmal mir gegenüber?«
Edward verzog das Gesicht. »Nicht einmal Ihnen gegenüber.«
5
Menschen verlassen ihr Heimatland und besuchen das europäische Festland aus einem dieser Hauptgründe – Gebrechen des Körpers, Beschränktheit des Geistes oder unvermeidlicher Notwendigkeit.
Laurence Sterne, Eine empfindsame Reise durch Frankreich und Italien
Es war beinahe Mitternacht, als Edward seiner strengen Haushälterin gegenüberstand. Glücklicherweise war sie noch angezogen, nachdem sich die festliche Gesellschaft erst kurz zuvor aufgelöst hatte. Er trug die junge Frau, die durch das Laudanum noch immer völlig kraftlos war, auf seinen Armen. Es kam ihm als Ironie des Schicksals vor, dass eine so leichte Gestalt ihn und seine Zukunft so schwer belasten konnte.
»Dieses Mädchen wurde im Dorf verletzt«, begann er. »Sie wurde von einem mutmaßlichen Wilderer angegriffen.«
»Im Dorf?«, wiederholte Mrs Hinkley mit weit aufgerissenen Augen.
Er zögerte, weil er an Tugwells Bitte dachte, und erwähnte die Verhaftung nicht.
»Ja. Ich kenne nicht alle Einzelheiten, weil ihre Verletzung – sehen Sie die blauen Flecken an ihrem Hals? – offenbar dazu geführt hat, dass sie nicht mehr sprechen kann.«
»Gütiger Himmel.« Sie öffnete die Tür zu ihrem kleinen Salon und bedeutete ihm, das Mädchen aufs Sofa zu legen.
»Ihr Angreifer befindet sich in der Arrestzelle, Mrs Hinkley. Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung.«
»Soll ich Ross schicken, damit er Dr. Sutton holt?«
»Sutton hat sie schon untersucht. Im Schwanen . Tatsächlich haben wir sie in seinem Pferdewagen hierher gebracht.«
Er konnte sehen, wie es in ihr arbeitete, als sie versuchte, seine unzusammenhängenden Sätze aneinanderzufügen und eine Erklärung daraus abzuleiten, warum er die junge Frau nach Brightwell Court gebracht hatte.
»Und Sie dachten, ich … könnte …?«
»Ich möchte sicherstellen, dass sie sich wieder erholt. Ich fühle mich in gewissem Maß verantwortlich, da sie in unserem Dorf verletzt wurde. Nachdem ich der neue Friedensrichter bin und so weiter.«
Wieder konnte er beobachten, wie sich die Räder in ihrem Kopf drehten. Er konnte ihre Gedanken erraten. Wäre nicht das Pfarrhaus besser geeignet? Oder die Räume von Dr. Sutton? Oder sogar das Armenhaus? Aber die Haushälterin hatte ihren gehobenen Posten nicht dadurch erhalten, dass sie ihre Herren hinterfragte.
»Soll ich mich hier in meinem Salon um sie kümmern, Mylord? Das Kindermädchen hat sich hier erholt, als es sich den Knöchel verstaucht hatte.«
»Ausgezeichnet. Dr. Sutton wird morgen vorbeikommen, doch er hält ihre Verletzung nicht für schwer. In der Zwischenzeit wäre es mir lieber, Lord und Lady Brightwell nichts davon zu sagen. Ich möchte nicht, dass etwas ihre Abreise morgen früh verdirbt.«
»Ich verstehe, Mylord. Wie Sie wünschen.«
Nach einem unruhigen Schlaf verabschiedete sich Edward steif von seinem Vater und umarmte seine Mutter herzlich, als sie sich zum Aufbruch bereit machten. Sobald die Kutsche am Ende der Zufahrt verschwunden war, suchte Edward direkt den Salon der Haushälterin auf. Er war entschlossen, herauszufinden, wie viel die junge Frau gehört und ob sie die Tragweite des Gesprächs erfasst hatte. Edward hatte bisher nicht genug Zeit gehabt, um selbst zu begreifen, welche Konsequenzen sich daraus ergeben könnten. Die Frage, was passieren könnte, wenn Olivia diese Informationen an den Höchstbietenden verkaufen oder in Gesellschaft etwas davon erwähnen könnte, hatten ihm den Schlaf geraubt. Eine solche Nachricht würde sich wie ein Lauffeuer über das Land, durch die Londoner Ballsäle und Clubs bis zu den Harringtons und den Verwandten der Bradleys verbreiten. Er würde alles verlieren – seinen Ruf, sein Erbe, seinen Titel, sein Zuhause.
Konnte solch ein schmächtiges Mädchen sein ganzes Leben, wie er es kannte, ruinieren?
Mrs Hinkley kam ihm an der Tür mit einem kurzen Nicken entgegen und ließ ihn herein, bevor sie die Tür diskret nach ihm schloss. Die junge Frau befand sich in halb liegender Position auf dem Sofa und hatte einen unangenehm riechenden Wickel um den
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