Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
abwenden und die Privatsphäre des Paars respektieren sollte, aber es gelang ihr nicht. Dann legte der Mann seine Hände um das Gesicht der Frau und sagte etwas. Die Frau nickte. Ihre blassen Wangen waren nass vor Tränen. Der Mann wischte sie mit den Daumen weg und küsste die Frau auf den Mund.
Peinlich berührt senkte Olivia den Kopf und entfernte sich. Sie zog sich in den Schatten eines Baumes zurück und lehnte sich gegen den Stamm, um tief durchzuatmen. Wenn doch ihr Vater und ihre Mutter einander solche Zuneigung gezeigt hätten, statt schweigend zu brüten oder hitzig zu streiten! Wenn doch auch sie eines Tages so eine zärtliche Liebe erfahren dürfte!
Eine Seitentür öffnete sich. Olivia erstarrte neben dem Baum. Schritte erklangen auf den Platten der Veranda, gefolgt von einem weiteren Paar.
»Edward, warte!«
»Über so etwas möchte ich nicht vor der versammelten Gesellschaft oder den Dienern sprechen.«
»Müssen wir denn überhaupt darüber sprechen?«
Olivia spähte hinter dem Baum hervor und suchte einen Fluchtweg. Die Veranda lag im gefleckten Halbdunkel aus Mondlicht und Schatten. Sie erhaschte einen Blick auf den älteren Herrn aus der Bibliothek. Er stand vor einem größeren Mann, dessen Rücken ihr zugewandt war.
»Soll ich einfach vergessen, was ich gelesen habe?«, stieß dieser ungläubig hervor.
»Nein, ich gehe nicht davon aus, dass dir das gelingen würde. Aber es muss keine Katastrophe werden, mein Junge.«
»Wie kannst du das behaupten?«
»Ich habe es die ganze Zeit gewusst und es hat nichts an meinen Gefühlen geändert.«
»Aber woher wusstest du …? Wo komme ich her? Wer war meine Mutter, wer mein –«
»Edward, senke deine Stimme! Ich werde dir eines Tages alles sagen, wenn du es wirklich wissen musst. Aber nicht heute. Nicht am Vorabend unserer Abreise.«
Olivia war bestürzt, ein so persönliches Gespräch zu belauschen. Was sollte sie tun? Wenn sie sich bewegte, und sei es nur, um die Hände auf die Ohren zu legen, würde man sie bemerken.
Der ältere Mann legte den Arm um die Schulter seines Sohnes. »Es tut mir leid, dass du all das erfahren musstest, ausgerechnet jetzt. Aber es hat sich nichts verändert. Nichts. Verstehst du?«
Der jüngere Mann schlug sich an die Brust und antwortete mit heiserer Stimme: »Alles hat sich verändert. Alles. Zumindest wird das so sein. Wenn …« Ihm versagte die Stimme und Olivia verstand den Rest des Satzes nicht.
»Daran können wir jetzt nichts ändern. Versprich mir, dass du nicht versuchen wirst, Genaueres herauszufinden. Lass die Sache fürs Erste ruhen, Edward. Ich bitte dich darum. Du hast jetzt schon genug zu verarbeiten.«
»Das ist eine leichte Untertreibung, Sir.«
Der Vater führte seinen Sohn Richtung Herrenhaus zurück. »Komm wieder ins Haus, mein Junge. Wie kalt es ist! Deine Mutter wird sich schon fragen, was aus uns geworden ist.«
Der junge Mann murmelte etwas Unhörbares, als sie zur Tür traten, und Olivia stieß den Atem aus. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie die Luft angehalten hatte.
»Können wir darauf verzichten, deine Mutter zu diesem Zeitpunkt mit der Sache zu belasten?«, fragte der ältere Mann. »Ich möchte nicht, dass ihr diese Reise verdorben wird.«
Sein Sohn seufzte. »Natürlich. Ihre Gesundheit steht für uns an erster Stelle.« Er hielt die Tür für seinen Vater auf. »Nach dir.«
Der ältere Herr setzte ein trauriges Lächeln auf und verschwand im Inneren.
Olivia trat hinter dem Baum hervor, um endlich die Flucht zu ergreifen. Aber der junge Mann hielt plötzlich inne, die Hand an der offenen Tür. Er stand reglos da und starrte blind in ihre Richtung. Hatte er sie gesehen oder gehört?
Ihr Herz pochte. Sie machte einen Schritt rückwärts, in der Hoffnung, sich wieder im Schatten verbergen zu können. Stattdessen stieß sie mit etwas Festem, Warmem zusammen. Sie schrie auf, als ein stinkender Sack über ihren Kopf geworfen wurde und kräftige Arme sie an den Schultern packten und aus ihrem Versteck zerrten.
4
Ein Wilderer endet als gebrechlicher alter Mann, wenn er glücklich genug ist,
der Deportation oder dem Galgen zu entgehen …
The Gamekeeper’s Directory
Als der Sack von ihrem Kopf gezogen wurde, stellte Olivia fest, dass sie sich in einer kleinen Stube befand und einen glatzköpfigen Mann und eine rundliche Frau mit Schürze vor sich hatte. Der Mann stellte sich vor. »Ich bin John Hackam, der Dorfwachtmeister. Immer noch.«
»Immer noch«,
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