Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
eindrucksvolle Haupteingangshalle mit der Flügeltür, hohen Fenstern und schwarz-weißem Marmorboden. »Auf der anderen Seite dieser Halle befinden sich die Bibliothek, das Billard- und das Empfangszimmer. Die müssen Sie nicht sehen.«
Die Haushälterin führte Olivia über die freitragende Treppe aus Stein nach oben. Olivia legte die Hand auf das geschnitzte Geländer, um sich abzustützen. Als sie das erste Stockwerk erreichten, blieb Mrs Hinkley nicht stehen. »In diesem Geschoss sind die Schlafzimmer der Familie und Lord Bradleys Studierzimmer.«
Olivia war außer Atem, als sie das oberste Stockwerk erreichten, aber Mrs Hinkley marschierte mit der unerschöpflichen Energie eines Soldaten die Stufen hinauf und durch die Korridore. »Und hier oben sind das Kinderzimmer, die Schlafzimmer der Kinder und das Schulzimmer. Das Kindermädchen und die Hausmädchen haben ebenfalls Räume hier oben.« Sie klopfte an eine Flügeltür und drückte beide Flügel auf, ohne auf eine Antwort von innen zu warten. Sie bedeutete Olivia, ebenfalls einzutreten.
Im hellen, heiteren Kinderzimmer fiel Olivias Blick auf eine dünne Jugendliche, die den Kaminrost reinigte und eine ältere Frau, die ein Kind schaukelte. Letztere stand behutsam auf, während der Schaukelstuhl weiter wippte. Das pausbäckige Kleinkind in ihren Armen saß aus eigener Kraft aufrecht, war aber noch kein Jahr alt. Es trug ein langes weißes Kleid und das abstehende weißblonde Haar auf seinem Kopf leuchtete wie ein Heiligenschein. Das Kind ähnelte seinem Vater.
»Miss Peale, dies ist Olivia Keene, Ihr neues zweites Kindermädchen. Sie war bisher noch nicht in Stellung, deshalb werden Sie sie mit ihren Pflichten vertraut machen müssen.«
Das alte Kindermädchen runzelte die Stirn. »Noch nie in Stellung gewesen, in ihrem Alter? Was hat sie denn die ganze Zeit gemacht?«
Die Haushälterin schürzte die Lippen. »Ich fürchte, das weiß ich nicht. Lord Bradley hat ihr die Stellung angeboten.«
Die grauen Augenbrauen hoben sich. »Tatsächlich? Wer hat sie empfohlen?«
»Niemand, soweit ich weiß. Sie hat kein Leumundszeugnis vorgelegt.«
Beide Frauen musterten sie, als wäre sie eine Monstrosität. Selbst das jugendliche Dienstmädchen unterbrach ihre Arbeit, um sie anzustarren.
Olivia lächelte entschuldigend.
Miss Peale kniff die Augen zusammen. »Und was haben Sie dazu vorzubringen, junge Frau?«
Mrs Hinkley räusperte sich. »Außerdem kann sie nicht sprechen, fürchte ich.«
Die alte Frau riss ungläubig die Augen auf. »Was? Eine Stumme?«
»Nur vorübergehend stumm, das sagt jedenfalls Dr. Sutton. Sie hat eine Verletzung am Hals erlitten, sollte aber im Lauf der Zeit ihre Stimme wiedergewinnen.«
»Und Master Edward hat ihr eine Stellung angeboten?«
»Ja, wie ich bereits gesagt habe, glaube ich. Gut. Ich werde Sie beide dann allein lassen, damit Sie sich kennenlernen können. Olivia kann lesen und schreiben, falls Sie auf diesem Weg mit ihr kommunizieren wollen.«
Die Augen der Frau verdunkelten sich einen Moment und blitzten dann auf. »Ich werde mich verständlich machen, Mrs Hinkley, keine Sorge. Aber die Betreuung von Master Andrew und Miss Audrey … ohne ein Wort zu sagen? Was sie da zustande bringen soll, wage ich gar nicht zu überlegen. Für Kinder gilt es, dass man sie sehen, aber nicht hören soll, aber nicht für ihre Kindermädchen!«
Mrs Hinkley lächelte steif. »Ja, gut. Ich denke, Sie beide werden eine brauchbare Lösung finden.«
Sobald Mrs Hinkley den Raum verlassen hatte, setzte sich die alte Frau mit dem Kind wieder in den Schaukelstuhl und musterte Olivia mit scharfem Blick.
»Ich war Master Edwards eigenes Kindermädchen, hat er Ihnen das gesagt?«
Olivia schüttelte den Kopf und versuchte, die drahtigen, zentimeterlangen grauen Haare, die von Miss Peales grob gerundeten Augenbrauen abstanden, nicht anzustarren.
»So ein feiner Junge war er. Und immer so freundlich zu mir. Ich war diejenige, die ihn betreute und sich um alles kümmerte, was er brauchte. Ich war diejenige, der er all seinen Kummer anvertraute.«
Olivia wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte und war froh, dass keine Antwort von ihr erwartet wurde.
Miss Peale neigte den Kopf zur Seite, sodass ihr silbergraues Haar neben den blonden Locken des Kindes lag. »Das hier ist Master Alexander. Zehn Monate ist er alt. Er ist Master Edward in diesem Alter so ähnlich, ist das nicht erstaunlich?«
Obwohl sie nicht verstand, was daran so
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