Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
erstaunlich sein sollte, lächelte Olivia höflich.
Miss Peale hob eine Hand und zeigte auf die junge Dienerin. »Und das ist Becky, das Dienstmädchen für das Kinderzimmer. Sie erledigt das Saubermachen und solche Dinge.«
Becky lächelte zu ihr herüber, während sie immer noch schrubbte, und Olivia antwortete mit einem Nicken. Sie fand, dass ein so junges Mädchen eigentlich in der Schule sein und nicht in einem Dienstverhältnis sein sollte, aber sie wusste, dass viele Mädchen sogar in noch jüngerem Alter zum Arbeiten geschickt wurden.
Mit lautem Getöse polterten zwei braunhaarige Kinder herein, bekleidet mit Mänteln, Mützen und Handschuhen. Ihr Aufzug sowie die roten Backen verrieten, dass sie gerade von draußen hereingekommen waren.
Eine junge Frau folgte ihnen schwer atmend. Sie trug einen grauen Umhang über einem schlichten grünen Kleid und die gleiche Schürze wie Olivia. Eine einfache Musselinhaube und rotblondes Haar umrahmten ein breites sommersprossiges Gesicht mit leuchtend grünen Augen und einer gedrungenen Nase.
Als sie Olivia bemerkte, blieb sie stehen und klatschte in die Hände. »Das neue zweite Kindermädchen?«
Als Olivia nickte, stürmte das Hausmädchen auf sie zu, legte beide Hände um eine von Olivia und drückte sie herzlich. »Oh, ich kann Ihnen nicht sagen, wie erleichtert ich bin, dass Sie gekommen sind! Jetzt können Sie sich um diese wilden Tiere kümmern und ich werde es genießen, wunderbar stille Räume zu reinigen.«
»Wir sind keine wilden Tiere, Dory«, erklärte das Mädchen. »So etwas sollten Sie nicht sagen.«
»Seid ihr nicht wild? Ich würde behaupten, dass ihr es seid. Löwen und Tiger seid ihr beide.«
Daraufhin hob der Junge seine Hände klauenförmig in die Luft und ließ ein lautes Brüllen ertönen. Olivia zuckte zusammen.
»Was habe ich Ihnen gesagt? Nun gut, jetzt gehören sie Ihnen, meine Liebe. Ich werde Ihnen ewig verbunden sein. Dieser Schlingel ist Master Andrew und das ist Miss Audrey.«
Der kleine Junge war sechs oder sieben Jahre alt, das Mädchen elf oder zwölf. Sie waren auf jeden Fall zu alt, um Lord Bradleys Kinder zu sein. Es sei denn, er wäre älter als er aussah. Außerdem sahen sie ihm kein bisschen ähnlich. Sie mussten wohl nach seiner Frau kommen.
»Und ich bin Doris.« Das rotblonde Hausmädchen blickte Olivia erwartungsvoll an. »Und wie heißen Sie?«
»Das ist … äh, Olivia«, sagte Miss Peale. »Das ist eher ein zu vornehmer Name für ein zweites Kindermädchen. Wir werden sie Livie nennen.«
Olivia öffnete die Lippen, um zu widersprechen, presste sie aber schnell wieder zusammen. Selbst wenn sie sprechen könnte, hatte sie kaum einen Grund, auf Miss Keene zu bestehen.
Doris starrte sie an, den Kopf zur Seite geneigt. »Sind Sie immer so still?«
»Sie kann momentan nicht sprechen«, erklärte Miss Peale. »Sie hat eine Verletzung am Hals erlitten – das erzählte mir Mrs Hinkley jedenfalls.«
Dorys Augen wurden groß. »Sind Sie das Mädchen, das in der Arrestzelle gewürgt wurde? Jemand hat gestern Abend davon gesprochen. Ein Wilderer hat Sie angegriffen, nicht wahr?«
Hatte sich die Geschichte bereits herumgesprochen? Lord Bradley würde das nicht gefallen. Auch Olivia lag nicht daran, dass ihre Verhaftung weithin bekannt wurde.
»Oder ist es im Schwanen passiert?«, wollte Doris wissen. »Das hat Johnny gemeint, aber ich habe gehört, es war in der Arrestzelle.«
Olivia zuckte leicht mit den Schultern und Doris kniff die Augen zusammen. Sie drehte sich zu der alten Kinderfrau um. »Ist sie nicht nur stumm, sondern auch beschränkt?«
»Das glaube ich nicht. Master Edward hat sie selbst in Dienst genommen – zweifellos aus gutem Grund. Was stehen Sie denn noch hier herum? Sehe ich keine dreckigen Schuhe an den Füßen der Kinder, und Mäntel, die aufgehängt werden müssen?«
In der winzigen Kammer, die ihr von nun an gehören würde, legte Olivia die Liste ihrer Pflichten, die Doris auf Miss Peales Veranlassung für sie geschrieben hatte, auf die Kleiderkommode. Olivia war beeindruckt gewesen, dass das Hausmädchen lesen und schreiben konnte – bis sie sich die Liste angeschaut hatte. Was für eine krakelige Schrift – und die Rechtschreibung erst!
Olivia öffnete die oberste Schublade und legte ihren Pompadour und ihre Handschuhe hinein. Dann hängte sie den Umhang und ihre neue Haube an einen Haken hinter der Tür. Sie hatte lächerlich wenig zu verstauen, um den Raum in Besitz zu nehmen.
Die
Weitere Kostenlose Bücher