Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
Kammer war schmal, und die Decke, die oberhalb des Betts noch hoch war, senkte sich zur Außenwand steil herab und reduzierte damit den Raum, in dem sich ein Mensch von über einem Meter Größe bewegen konnte, um die Hälfte. Das Zimmer war weiß getäfelt, auf dem Eisenbett lag eine gesteppte weiße Baumwolldecke. Ein kleines Dachfenster ließ das schwache Leuchten der Nachmittagssonne herein. Vom Fenster aus blickte Olivia auf ein braches Feld und den in der Ferne liegenden Wald hinunter. Welche Richtung war das? Vom Lichtwinkel her nahm sie an, dass ihr Zimmer Richtung Nordwesten ging. Von dorther war sie gekommen, und dort lag ihr Zuhause, das jetzt kein Zuhause mehr war.
Was mochte dort jetzt geschehen? Hatte ihr Vater das Bewusstsein wiedererlangt? Hatte Muriel Atkins seine Wunde behandelt und auch die ihrer Mutter? Oder war ihr Vater … gestorben? Veranlasste der Wachtmeister womöglich genau in diesem Moment eine Suche nach ihr?
Warum, ach, warum nur hatte sie ihren richtigen Namen angegeben? Der Schock und die Müdigkeit hatten ihren Verstand schwerfällig gemacht. Sie hatte nicht schnell genug überlegt. Und sobald sie dem Pfarrer erst einmal ihren Namen verraten hatte, hatte sie nicht gewagt, später einen anderen zu nennen. Durfte sie hoffen, hier verborgen zu bleiben – als untergeordnete Bedienstete im obersten Stockwerk dieses großen Herrenhauses?
Olivia schob die Gedanken, die sich um ihr eigenes Schicksal drehten, beiseite und konzentrierte sich noch einmal auf das, was sie belauscht hatte. Sie fragte sich, was es für Lord Bradley, seine Frau und seine Kinder bedeuten würde. War seine Frau sehr enttäuscht, vorausgesetzt, er hatte ihr das Ganze erzählt? Und was würde aus dem armen Andrew werden, dem ältesten Sohn?
Das Getrappel von Hufen und ein Ruf zogen Olivia wieder an ihr kleines Fenster. Durch das wellige Glas schaute sie auf die lange Zufahrt unter ihr. Ein livrierter Diener sprang von seinem Sitz und öffnete die Kutschentür. Olivia beobachtete, wie eine Frau in der Türöffnung erschien. Ein kleiner Hut saß schräg auf ihrem blonden Lockenkopf. Ein dunkler Umhang wogte um ihre Füße, als sie anmutig herabstieg. Die Mutter der Kinder, nahm Olivia an. Seine Frau.
Wie auf ein Stichwort hin erschien Lord Bradley auf der Bildfläche und grüßte die Frau ein kleines Stück von der Kutsche entfernt. Die Frau lehnte sich dicht an sein Ohr, vielleicht, um ihm etwas zuzuflüstern oder um seine Wange zu küssen. Aus dieser Entfernung konnte Olivia es nicht genau erkennen. Arm in Arm schritten die beiden hoheitsvoll auf das Herrenhaus zu und damit aus Olivias Blickwinkel.
Olivia hatte die Kinderfrau nicht von einer Mrs oder Lady Bradley sprechen hören. Sie hatte nur Lady Brightwell erwähnt – »ist nach Italien gereist, die arme Seele«. Aber wenn dies die Mutter der Kinder war, konnte Olivia damit rechnen, ihr bald genug zu begegnen.
Genau diese Dame in Person rauschte eine Viertelstunde später ins Kinderzimmer. Jetzt trug sie eine Spitzenhaube über den goldblonden Locken, die ihr Gesicht umrahmten. Ihre hellblauen Augen waren rund und ihre Wangen rosig, was ihr das Aussehen eines engelhaften kleinen Mädchens gab. Dieser Vergleich wurde aber schnell zunichte, wenn man den Blick von ihrem Gesicht zu den großzügigen Rundungen unter ihrem enganliegenden taubengrauen Kleid senkte.
Olivia kam sich viel zu schäbig vor, um sich im gleichen Raum mit ihr aufzuhalten.
Die großen Augen der Frau hefteten sich auf das Kleinkind in den Armen der Kinderfrau. »Ah, da ist er ja. Wie geht es dem kleinen Mann heute?«
»Es geht ihm gut, gnädige Frau«, antwortete Miss Peale.
Audrey näherte sich der Frau fast schüchtern. »Alexander hat mich angelacht«, erzählte sie. »Schau, ich bringe ihn noch einmal zum Lächeln.«
»Ist schon gut, Audrey. Jetzt lächelt er seine Mama an.«
Andrew verließ seine Spielzeugsoldaten und zupfte am Kleid der blonden Frau. Dabei sah er lächelnd zu ihr auf.
»Ach, Andrew, putz dir die Nase«, sagte sie.
Bevor Olivia sich in Bewegung setzen konnte, wischte sich der kleine Junge gehorsam mit dem Ärmel die tropfende Nase ab.
Die Mutter des Jungen zuckte zusammen und sah zum Himmel, als müsse sie dort um Geduld flehen.
Olivia eilte mit einem Taschentuch herbei und half dem Jungen, seinen Ärmel und die verschmierte Wange zu reinigen.
Miss Peale hob ihre mit Altersflecken übersäte Hand und zeigte auf Olivia. »Das ist unser neues zweites
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