Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
mich ein bewusster Gedanke daran hindern konnte.
Ich spähte zu Herbert hinüber. Ein Schweißtropfen bewegte sich langsam von seinem Haaransatz zu seiner Wange.
»Komm schon, Herbert, du musst jetzt nicht den Gentleman spielen. In diesem Fall brauchst du ›Ladies first‹ nicht zu beachten, ja?«
Herbert nickte, die Augen fest auf den Mund meines Vaters gerichtet, als könne er mit reiner Willenskraft bewirken, dass die nächsten Zahlen einfacher waren, als könne er sie mit seinem starren Blick kontrollieren.
Mein Vater nannte eine Divisionsaufgabe, nicht allzu schwer, und wieder konnte ich das Ergebnis in der Luft vor mir sehen.
Doch wieder brachte der junge Mann keinen Ton heraus.
Na los , redete ich ihm innerlich zu. Sag es schon.
»Komm schon, Herbert«, bedrängte ihn sein Vater mit zusammengekniffenem Gesicht. »Wir haben nicht den ganzen Abend Zeit.«
»Könnten Sie die Zahlen noch einmal wiederholen?«, fragte Herbert mit schwacher Stimme. Er tat mir leid.
Ich spürte den demonstrativen Blick meines Vaters auf mir und hörte seine leise Aufforderung: »Heraus damit, Mädchen.«
»Sechshundertvierundvierzig«, antwortete ich entschuldigend und vermied es, jemanden anzusehen.
Zustimmendes Murmeln erfüllte den Raum.
Der Gentleman stand mit blitzenden Augen auf. »Es ist unmöglich, dass das Mädchen das im Kopf ausgerechnet hat. Jetzt weiß ich, was los ist. Das ist ein Trick, nicht wahr? Zweifellos sind wir nicht die ersten Reisenden, die von Ihrem abgerichteten Affen hereingelegt werden, der jede Ihrer Aufgaben auswendig gelernt hat.«
Ich zuckte zusammen und wartete darauf, dass mein Vater mit geballten Fäusten aufstehen und den Mann angreifen würde. Betrüger versetzten ihn in Wut, und ich hatte viele Male miterlebt, wie er über ein manipuliertes Spiel oder Rennen in Rage geraten war. Ja, er nahm den anderen Männern seinen Anteil an ihrem Gewinn ab, aber nicht einen Viertelpenny darüber hinaus.
»Wollen wir doch mal sehen, wie sie sich schlägt, wenn ich die Aufgabe stelle«, verlangte der Gentleman. »Und die erste richtige Antwort gewinnt den gesamten Wettbetrag.«
Würde mein Vater eine solch beleidigende Andeutung auf sich sitzen lassen?
Der Wirt legte eine Hand auf seinen Arm, zweifellos aus Sorge, dass seine Einrichtung zu Schaden kommen könnte. »Warum nicht, Mann?«, argumentierte er ruhig. »Lassen Sie Olivia beweisen, dass sie so klug ist, wie wir es alle von ihr wissen.«
Mein Vater zögerte.
»Es sei denn, Sie hätten Angst davor?«, spottete der Gentleman.
»Ich habe keine Angst davor.«
Die Augen meines Vaters bohrten sich in das Gesicht des stolzen Reisenden, während ich den Blick nicht von seinem Sohn abwenden konnte. Demütigung und Schande standen ihm ins Gesicht geschrieben. Es war eine Sache, wenn ein Mädchen schlau war – das war unerwartet. Ein netter Trick zum Vorführen, egal, ob man tatsächlich auf ehrlichem Weg dazu gekommen war. Aber dass ein Sohn, der Stolz seines Vaters und zweifellos der Erbe, als schwerfällig bloßgestellt und von einem Mädchen lächerlich gemacht wurde, war etwas anderes. Mich schauderte es, wenn ich daran dachte, welche vernichtenden Vorwürfe oder was für eine eisige Ablehnung ihn auf der vor ihnen liegenden langen Reise – und vielleicht sein ganzes Leben lang – begleiten würden.
Der Gentleman blickte zu den mit Hopfen verzierten Balken, während er nachdachte, dann verkündete er seine Rechenaufgabe. Zweifellos war es eine, deren Ergebnis er kannte, wahrscheinlich die Fläche seines Landes multipliziert mit dem durchschnittlichen Ertrag des letzten Jahres. Auf jeden Fall irgendetwas in dieser Art. Vor dem Hintergrund des blassen Gesichtes des Jungen und seiner niedergeschlagenen grünen Augen tauchten die Zahlen vor mir auf, doch ihnen fehlte ihre übliche Klarheit. Stattdessen glitten sie schwankend hin und her wie dieses dumme Silberfischchen und verschwanden unter der Tür.
Die Augen des jungen Mannes leuchteten auf. Wahrscheinlich wusste er die Zahl eher deshalb, weil er sie im Gedächtnis hatte, als wegen seiner Rechenleistung. Aber sobald er das Ergebnis ausrief, wusste ich, dass es stimmte. Die Erleichterung und der unterdrückte Jubel auf seinem Gesicht bauten mich eine Sekunde lang auf. Wie sein Vater ihn daraufhin anlächelte und ihm auf die Schulter klopfte, schenkte mir eine weitere gute Sekunde. Dann wurde mir das Missfallen in den Augen meines eigenen Vaters bewusst, und ich erkannte, wie furchtbar
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