Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
es war, was ich getan hatte. Ich erkannte es zu spät. Nie mehr würde er mich mitnehmen. Nie mehr würde er mich sein kluges Mädchen oder auch nur Olivia nennen.
Der Gentleman nahm die Guinea meines Vaters von der Theke. »Ich werde nur eine Guinea nehmen. Das soll Ihnen eine Lehre sein. Den Rest lasse ich Ihnen, damit Sie Ihre Schulden bei den anderen Leuten begleichen können, die Sie zweifellos im Lauf der Jahre getäuscht haben.« Er drehte sich schwungvoll um, legte seine behandschuhte Hand auf die Schulter seines Sohnes und schob ihn aus dem Raum.
Ich sah ihnen nach und fühlte mich zu miserabel, um erleichtert darüber zu sein, dass ich meinen Vater nur eine Guinea gekostet hatte. Denn ich wusste, dass er durch mich weitaus mehr verloren hatte – den Respekt jedes einzelnen Menschen in diesem Raum.
Langsam nahm ich ihre abweisenden Blicke war und bemerkte, wie sie unwillkürlich vor uns zurückwichen. Jetzt würden sie dem Reisenden glauben, dass meine Fähigkeit von Anfang an nichts als ein Trick gewesen war. Dass wir uns ihren ganzen Applaus und das Bier und die Wetteinsätze auf unehrliche Weise erschlichen hatten. In seinen – und jetzt auch in ihren – Augen waren sie alle von uns hereingelegt worden. Von mir.
Weil ich geschwiegen hatte.
1
Es ist nicht gut, einen schlafenden Hund aufzuwecken.
Geoffrey Chaucer
Zwölf Jahre später.
1. November 1815
Ihr Herz pochte vor Angst und Reue, während Olivia Keene rannte, als wären ihr Höllenhunde auf den Fersen. Als hinge ihr Leben davon ab.
Sie floh aus dem Dorf, rannte über eine Wiese, kletterte über eine Schafpforte, verfing sich in ihrem Rock und fiel der Länge nach in den Dreck. Das Bündel in ihrer Umhangtasche schlug gegen ihre Hüfte. Sie beachtete es nicht, sondern stand auf und rannte weiter. Sie warf einen Blick zurück, um sicherzugehen, dass ihr niemand folgte. Vor ihr lag der Wald von Chedworth.
Die Warnungen, die sie jahrelang gehört hatte, hallten ihr durch den Kopf. »Treib dich nachts nicht im Wald herum.« Wildhunde durchstreiften diesen Wald, Diebe und Wilderer lagerten dort. Sie hatten scharfe Messer und noch schärfere Augen, mit dem sie nach leichter Beute Ausschau hielten. Eine Frau mit 24 Jahren wie Olivia war klug genug, sich nachts nicht allein in den Wald zu wagen. Aber die Schreie ihrer Mutter gellten ihr noch in den Ohren und übertönten die alte Stimme der Vorsicht. Die Gefahr, die hinter ihr lauerte, war weit realer als jede vorstellbare Gefahr, die vor ihr liegen könnte.
Angstschauer prickelten auf ihrer Haut, als sie sich in die ausgestreckten Arme des Waldes warf, der an diesem frostigen Herbstabend bereits düster und schattenhaft wirkte. Unter ihren dünnen Sohlen raschelte trockenes Laub. Zweige griffen nach ihr wie knorrige Hände. Sie stolperte über abgebrochene Äste und Unterholz, und jeder knackende Zweig erinnerte sie daran, dass ein Verfolger dicht hinter ihr sein und jeden Moment in Sichtweite kommen könnte.
Olivia rannte, bis sie Seitenstechen bekam. Schwer atmend verlangsamte sie ihr Tempo. Sie marschierte weiter, es kam ihr vor wie eine Stunde oder noch länger, doch noch immer hatte sie das andere Ende des Waldes nicht erreicht. Lief sie vielleicht im Kreis herum? Der Gedanke, die Nacht im schnell finster werdenden Wald verbringen zu müssen, veranlasste sie, ihre Schritte erneut zu beschleunigen. Sie stolperte über ein Gewirr von Wurzeln und fiel ein weiteres Mal der Länge nach hin. Ein Kratzer brannte auf ihrer Wange. Einen Moment lang blieb sie einfach liegen und versuchte, wieder zu Atem zu kommen.
Der durch den Fall verursachte Schmerz durchbrach die Mauer des Schocks, und die heißen Tränen, die sie bisher zurückgehalten hatte, strömten hervor. Sie richtete sich mühsam auf und setzte sich weinend an einen Baum.
Allmächtiger Gott, was hab ich getan?
Ein Zweig knackte und eine Eule warnte ihren Genossen mit einem Schrei. Vor Angst verstummte Olivias Schluchzen sofort. Die Haare an ihrem Hinterkopf prickelten, als sie mit weit aufgerissenen Augen versuchte, das vom Mondlicht erhellte Halbdunkel zu durchdringen.
Ein Paar Augen starrte zurück.
Ein sehniger, dunkler Hund stand mit gefletschten Zähnen keine sechs Meter von ihr entfernt. In stummer Panik tastete Olivia den Boden neben sich ab, um etwas zu finden, was sie als Waffe gebrauchen könnte. Das Unterholz bebte und der Boden wurde von einem galoppierenden Schritt erschüttert. Zwei weitere Hunde rannten
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