Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
sie eifrig mit Weitergeben beschäftigt, um es schwieriger für Olivia zu machen. Allerdings waren sie ein sehr kleiner Kreis und Olivia war davon überzeugt, dass Andrew den Schuh hatte, doch dann gab er ihn so schnell weiter, dass sie nicht mehr sicher war. Felix' Augen blitzten schelmisch auf.
Mit einem unterdrückten Lächeln zeigte sie auf ihn.
Er streckte seine leeren Hände aus und zwinkerte ihr zu.
Als Nächstes verdächtigte Olivia Audrey, und da sie richtig vermutet hatte, wurde sie angewiesen, ihren Platz mit dem Mädchen zu tauschen – das direkt neben Lord Bradley gesessen hatte. Olivia schluckte und setzte sich vorsichtig, darauf bedacht, sein Knie nicht mit ihrem zu streifen und ihre Röcke ordentlich über die Beine zu ziehen.
Audrey drehte eine Pirouette als Pfand und verlor dann keine Zeit, eine neue Runde anzufangen, indem sie ihr Verslein aufsagte: »Schuster, Schuster, flick den Schuh. Tu es schnell, ich komm im Nu.«
Andrew reichte den Schuh an Lord Bradley, der nach Olivias Hand fasste, um ihr den Schuh weiterzugeben. Olivia fürchtete, ihre Handfläche würde feucht werden, so nervös machte es sie, dass sie so dicht bei ihm saß. Als seine Fingerspitzen ihre Handfläche berührten, zuckte sie zusammen, verfehlte den Schuh und ließ ihn zu Boden fallen.
»Jetzt haben Sie ihn fallengelassen, Livie!«, sagte Felix. »Sie müssen Ihr Pfand zahlen.«
»Ein Pfand zahlen, ein Pfand zahlen!«, wiederholte Andrew.
Olivias Herz pochte. Sie wischte sich die feuchten Handflächen am Saum ihres Kleides ab, der um ihre Knöchel gewickelt war. Was sollte sie tun? Was konnte sie tun?
Sie stand auf, trat ans Klavier und spielte dort ein paar Takte aus einem Klavierkonzert von Mozart, den Türkischen Marsch, den sie bei Miss Cresswell gelernt hatte. Danach verbeugte sie sich mit Schwung und kehrte zu ihrem Platz auf dem Boden zurück.
Alle klatschten entzückt, außer Lord Bradley. Er starrte sie nur an. War sie einen Schritt zu weit gegangen, indem sie auf dem Klavier spielte, das zur Nutzung der Kinder vorgesehen war?
Offensichtlich war es so, denn er erhob sich, strich seine Jacke glatt und entschuldigte sich bei seinen Verwandten. »Verzeiht mir, aber ich habe ganz vergessen, dass ich einen Termin mit dem Sekretär meines Vaters habe.«
Wie töricht sie sich vorkam, wie getadelt. Die Kinder jammerten, aber Felix beobachtete seinen Abgang genauso schweigend wie sie.
Olivia erwachte fröstelnd. Ihr kleines Zimmer hatte kein eigenes Feuer, sondern wurde vom Kamin im benachbarten Schlafzimmer erwärmt. Und dieses Feuer war zweifellos schon vor Stunden zu Asche heruntergebrannt. Sie zog sich die Decke über den Kopf und versuchte, warm zu werden und wieder einzuschlafen. Da hörte sie etwas und erstarrte. Sie lauschte so angestrengt, dass sie nicht einmal mehr zitterte. Langsam und quietschend öffnete sich die Tür und Olivia setzte sich mit pochendem Herzen aufrecht hin.
Als ihre Augen sich an das Dunkel gewöhnten, sah sie eine Gestalt auf Zehenspitzen in ihr Zimmer kommen. Eine kleine Gestalt.
Andrew.
»Ich habe schlecht geträumt«, murmelte er, und sie konnte hören, wie er zitterte.
Olivia schlug die Bettdecke zurück und er schlüpfte sofort neben ihr ins Bett. Sie wusste, dass sie ihn eigentlich in sein eigenes Bett zurückbringen und ihm eine zusätzliche Decke besorgen sollte, oder dass sie Becky wecken sollte, damit sie das Feuer schürte und noch einen Ziegelstein fürs Bett erhitzte. Stattdessen zog sie ihm die Decke bis ans Kinn und bat Gott lautlos, ihm gute Träume zu schicken. Andrew kuschelte sich mit einem kleinen Seufzer an sie und war innerhalb von Sekunden eingeschlafen. Na, gut … sie würde früh aufstehen und ihn in sein Bett zurücktragen.
Sie strich ihm über den Kopf und fragte sich, ob es sich so anfühlte, jemandes Mutter zu sein – diese süße, befriedigende Macht zu besitzen, jemanden zu beruhigen und zu trösten. Sie fragte sich auch, ob sie jemals eigene Kinder haben würde. Wenn man bedachte, dass sie mit fast fünfundzwanzig noch unverheiratet war, schien das unwahrscheinlich. Sie dachte flüchtig an den einzigen jungen Mann, der ihr jemals den Hof gemacht hatte, und brachte den bohrenden Zweifel, der darauf folgte, zum Schweigen. Stattdessen legte sie den Arm um Andrew und genoss seine Wärme, seine Nähe und den sonnigen Geruch seiner frisch gewaschenen Haare, während sie in den Schlaf sank.
Als Olivia am Morgen erwachte, lag Andrew noch
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