Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
immer neben ihr und sie hatte das beunruhigende Gefühl, beobachtet zu werden.
Sie warf einen Blick zur Tür und sah, dass sie von letzter Nacht, als Andrew hereingeschlüpft war, noch immer offenstand. Sie schnappte nach Luft, als sie erschrocken bemerkte, dass Lord Bradley und Audrey auf der Schwelle standen und zu ihr hin spähten. Rasch zog sie sich die Bettdecke über ihr dünnes Nachtgewand.
»Bitte entschuldigen Sie«, murmelte Lord Bradley und wandte die Augen ab. »Audrey hat sich Sorgen gemacht, weil sie Andrew nirgends finden konnte.«
Olivia öffnete den Mund, um sich zu verteidigen, erinnerte sich aber noch rechtzeitig daran, dass sie nicht sprechen durfte.
»Hatte er einen bösen Traum und wollte deshalb bei Ihnen schlafen?«, fragte Audrey.
Olivia nickte. Diese Annahme kam der Wahrheit sehr nahe und würde vermutlich dafür sorgen, dass sie schnell wieder verschwanden.
»Da siehst du es, Audrey. Es gibt nichts zu befürchten. Andrew geht es wunderbar.«
Er blickte zu ihr und Olivia spürte, wie ihre Wangen brannten, als sie die Bettdecke noch höher zog.
Andrew öffnete verschlafen die Augen und sah zwischen Olivia, seiner Schwester und seinem Cousin hin und her, offensichtlich verwirrt darüber, sich im Bett des Kindermädchens zu befinden.
»Sie haben im Schlaf gesprochen, Miss Livie!«, sagte er dann zur Überraschung von Olivia und ihren Zuhörern.
Olivia schüttelte den Kopf, aber Andrew blieb hartnäckig. »Doch, das haben Sie! Sie sagten etwas über einen Kamm und dann: ›Ich hätte es nicht tun dürfen. Ich wollte das nicht.‹ Diesen Teil haben Sie zwei Mal gesagt. Was wollten Sie nicht tun?«
Olivia war wie vor den Kopf geschlagen und spürte, wie ihr Gesicht erneut rot anlief. Sie wagte einen kurzen Blick zu Lord Bradley, wohl wissend, dass ihm diese Geschichte missfallen würde.
»Andrew, du musst geträumt haben«, erklärte Audrey und betrat das Zimmer. »Miss Keene kann nicht sprechen.« Sie nahm Andrew bei der Hand, als er aus dem Bett stieg, und führte ihn aus dem Raum. »Du hattest letzte Nacht wieder einen von deinen bösen Träumen, nicht wahr?«
»Ja, das schon, aber –«
»Siehst du? Es war alles nur ein Traum. Miss Keene soll im Schlaf sprechen? Was du für eine Fantasie hast!«
Nachdem die Kinder verschwunden waren, blieb Lord Bradley noch einen Moment stehen, um ihr kurz zuzunicken, bevor er die Tür zuzog. Olivia seufzte. Nächstes Mal durfte sie Andrew auf keinen Fall erlauben, das Bett mit ihr zu teilen.
Am Mittwochmorgen brachte Olivia die Kinder für ihre Reitstunden zum Stall. Als sie ankam, war Lord Bradley nirgendwo zu sehen, deshalb gingen sie und die Kinder auf die andere Seite des Stalls und schauten zu, wie Talbot ein Pferd beschlug. Als Nächstes beobachteten sie, wie Johnny das kleine Pferd und das Pony sattelte, auf denen Audrey und Andrew später reiten würden. Als eine Viertelstunde vergangen und Lord Bradley immer noch nicht aufgetaucht war, erbarmte sich Johnny der zappeligen Kinder.
»Was meinen Sie, Miss Livie? Diese zwei Tierchen können es kaum erwarten loszulegen. Und die Pferde auch nicht.« Er zwinkerte ihr zu. »Ich könnte sie ein Weilchen auf dem Hof herumführen, bis Lord Bradley kommt?«
Olivia nickte dankbar.
Lächelnd legte Johnny dem Pferd und dem Pony eine Leine an. Begeistert bestiegen die Kinder die Tiere und der Stallknecht führte sie in einem weiten Kreis über den Hof. Das war nicht so aufregend wie ein Ritt mit ihrem Cousin, aber wenigstens standen sie nicht untätig herum.
Ein paar Minuten später betrat Lord Bradley in schnellem Schritt den Stall und warf nur einen kurzen Blick in Olivias Richtung. Er ging zu einer der Boxen und streichelte über das Gatter hinweg den Kopf seines großen Rappen.
»Warten Sie und die Kinder schon lange?«, fragte er, den Blick immer noch auf das Pferd gerichtet. Sie war überrascht, dass er ein Gespräch mit ihr anfing.
Da niemand in Hörweite war, antwortete Olivia leise: »Nicht sehr lang.«
Er nickte. Und da kein Stallbursche sich erbot, diesen Dienst für ihn zu übernehmen, öffnete er selbst das Gatter und fing an, sein Pferd zu satteln.
Sie wartete ab, aber als er sie nicht dafür tadelte, dass sie mit ihm gesprochen hatte, erkundigte sie sich: »Wie ist denn sein Name? Das ist ja ein wunderschönes Tier!« Und hat mich beinahe zu Tode getrampelt , ergänzte sie insgeheim.
»Raten Sie.« Er drückte die Trense zwischen die großen Zähne des Pferdes und hob dann
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