Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
meiste Zeit wie eine Vogelscheuche aus, nicht wahr?«
Olivia nickte zustimmend.
Mrs Moore schnalzte mit der Zunge. »Er ist so dünn wie nie zuvor. Ich frage mich, was er isst. Ich bezweifle, dass er in den letzten Jahren mal ein ordentliches Essen hatte.«
Olivia war erstaunt über den mitfühlenden Ton in ihrer Stimme. Natürlich war sie inzwischen lang genug in Brightwell Court, um zu wissen, dass Mrs Moore den Gedanken, dass jemand hungrig blieb, nicht ertragen konnte.
»Und er ist zu stolz, um mit uns zu essen«, meldete sich eines der Küchenmädchen zu Wort.
»Sei still, Edith, und rupf weiter«, erwiderte Mrs Moore. »Er hat sein eigenes Haus und seinen eigenen Herd, nicht wahr? Er ist nicht in Stellung wie der Rest von uns.«
Mrs Moore seufzte. »Und ich habe hier zwei wunderbare Rebhuhnpasteten und niemanden, der sie essen will.« Bekümmert blickte sie zwischen Olivia und den Pasteten hin und her.
Nein … dachte Olivia und schüttelte langsam und unmissverständlich den Kopf.
Sukey begleitete sie bis zum Anfang des schmalen Pfads, doch dort weigerte sie sich, weiter mitzukommen. Olivia schluckte, umklammerte das Päckchen mit den Pasteten fester und trat auf die Lichtung.
Croome saß auf der Treppe vor der Hütte und strich ein langes Messer über einen Wetzstein. Als sie näher kam, hob er ruckartig den Kopf.
»Was wollen Sie?« Croomes graue Brauen bildeten ein ärgerliches V über seinen zusammengekniffenen Augen. »Hier gibt’s nichts zum Herumschnüffeln.«
Olivia erinnerte sich an Mrs Moores Rat: »Lassen Sie ihn Ihre Angst nicht sehen. Wenn er Schwäche riecht, ist er schlimmer als die Raubtiere, vor denen er den Wald schützt.«
Er starrte sie an und es kostete sie sämtliche Beherrschung, seinem hasserfüllten Blick nicht auszuweichen.
Plötzlich richteten sich seine Augen auf das Päckchen in ihren Händen. »Was immer das ist, Sie können es gleich wieder mitnehmen. Ich brauche Ihre Almosen nicht.«
Sie hob das Kinn und hielt ihm das in Papier gewickelte Essen entgegen, auf das Mrs Moore den Inhalt geschrieben hatte: Rebhuhnhackpastete .
Sein wütender Blick verfinsterte sich vor Abscheu, und bestürzt sah Olivia zu, wie er aufstand, das Päckchen aus ihrer Hand riss und es böswillig ins Schweinegehege warf. Das Päckchen brach auf, die Pasteten fielen heraus und waren bald von grunzenden Schweinen umringt und gefressen.
Olivia zuckte zusammen und spürte den Schmerz über ihre abgelehnte Gabe, auch wenn Mrs Moore diejenige gewesen war, die den Vorschlag gemacht hatte. Gehacktes Rebhuhn wurde als Delikatesse betrachtet – ein seltener Leckerbissen für jeden. Wie undankbar Croome war, wie unhöflich!
Sie hatte sein Geheimnis bewahrt und sich wider besseres Wissen von Mrs Moore überreden lassen, ihm ein Geschenk anzubieten. Nun gut, sie hatte alles getan, was sie konnte, um sich für ihre Rettung im Wald zu revanchieren. Den ganzen Weg zurück zum Herrenhaus schäumte sie innerlich. Sie war fertig mit diesem Mann. Sollte Croome sich doch zu Tode hungern, dann wären sie ihn endlich los!
12
Vermeiden Sie so oft wie möglich, mit dem anderen Geschlecht allein zu sein, denn das größte Unheil entsteht aus kleinen Umständen.
Samuel & Sarah Adams, The Complete Servant
Am nächsten Morgen ging Olivia ins Erdgeschoss, um Mrs Hinkley zu suchen. Sie sollte ihr eine Nachricht von Miss Peale bringen, die die Kinderfrau ihr diktiert hatte, während sie alle Hände voll mit Alexander zu tun gehabt hatte.
Die Nachricht bat um die Beschaffung eines Elfenbeinrings und einstweilen um einen Kanten altes Brot, auf dem das unruhige, zahnende Kind herumnagen konnte.
Olivia traf die Haushälterin am kleinen Schreibtisch in ihrem Salon, über ein liniertes Buch gebeugt. Sie schaute auf, als Olivia eintrat, und stöhnte. »Ich habe fast drei Stunden über den Haushaltsabrechnungen zugebracht und kann dieses Konto nicht ausgleichen. Mr Walters wird morgen Rechenschaft über jeden Schilling verlangen und ich weiß nicht, wo der Fehler liegt.«
Olivia biss sich auf die Lippe. Sollte sie es wagen, ihre Hilfe anzubieten? Sie deutete mit dem Finger auf ihre Brust.
»Sie wollen sich daran versuchen?« Mrs Hinkley lachte schnaubend. »Verstehen Sie etwas von Haushaltsbüchern?«
Olivia hob die Schultern und machte eine flatternde Handbewegung.
Mrs Hinkley stand auf. »Na gut, ich vermute, es ist nichts Vertrauliches daran, wie viele Speckscheiben und Kilo Zucker wir kaufen oder wie viel
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