Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
blieb mit den Kindern im Haus. Sie setzte sich mit Audrey an das alte Klavier in der Ecke, half ihr, die Finger auf die korrekten Tasten zu legen, und folgte der Partitur an den komplizierteren Stellen mit den eigenen Fingern.
In der Zwischenzeit ließ Andrew sich nicht davon abhalten, unaufhörlich durchs Kinderzimmer zu rennen, einen Ball herumzukicken und Alexanders Holzpferde umzuwerfen, worauf der zehn Monate alte Junge weinte. Nach einem scharfen Verweis von Miss Peale zog Andrew einen Federballschläger aus einem Schirmständer in der Ecke und fing an, ihn wie einen Cricketschläger zu schwingen. Er schlug einen Holzball quer durchs Zimmer, der mit einem dumpfen Geräusch gefährlich dicht neben Olivias Kopf an der Wand auftraf.
Olivia erhob sich, ging durch das Zimmer zu Andrew und streckte ihre Hand aus. Reumütig händigte er ihr den Schläger aus. Sie ging zum Schirmständer, doch statt den Schläger zurückzustecken, zog sie einen zweiten heraus und wühlte in dem Ständer, bis sie einen brauchbaren Federball entdeckte. Sie kehrte zu dem niedergeschlagenen kleinen Jungen zurück, übergab ihm einen Schläger und stellte sich, bewaffnet mit dem zweiten Schläger, ein paar Meter entfernt gegenüber auf.
Sein Gesicht hellte sich sofort auf.
Sie stieß den Federball mit einer sanften Bewegung aus dem Unterarm an, sodass der gefiederte Ball in die Luft flog. Andrew schwang seinen Schläger so heftig, dass er einmal im Kreis herumwirbelte und den Spielball komplett verfehlte.
»Du liebe Güte«, brummte Miss Peale gutmütig. »Ich sollte Master Alexander lieber in Sicherheit bringen, bevor er der Nächste ist, der durch die Luft fliegt.« Sie stöhnte, als sie sich über den kleinen Jungen beugte, ihn hoch nahm und in ihr eigenes Zimmer brachte.
Andrew hob den Federball auf und schoss ihn zurück, dieses Mal in die Spielzeugkiste. Aber nach ein paar weiteren Versuchen gelang es ihnen, eine Serie von zwei oder drei Treffern aufrechtzuerhalten, bevor sie unterbrechen und den Ball aufheben mussten. Audrey schaute interessiert zu ihnen herüber.
»Darf ich mitspielen?«
Olivia nickte.
»Zwei gegen einen, das ist nicht fair«, beschwerte sich Andrew.
»Dann werde ich auch mitmachen.« Die tiefe Stimme erschreckte Olivia. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass Lord Bradley an der halb geöffneten Tür stand. Sie hoffte, dass ihr Herumtoben ihn nicht gestört hatte. Aber sie fand, er sah zufrieden oder zumindest belustigt aus.
»Gibt es noch einen Federball?«, fragte er und zog seine Jacke aus.
Olivia fand zwei weitere Schläger, gab Audrey den gut erhaltenen und ihrem Cousin den mit den zwei Rissen.
Er musterte ihn zweifelnd, murmelte aber nur: »Perfekt.«
Das Spiel begann mit viel Geschrei und körperlichem Einsatz. Olivia konnte diesen lachenden, fröhlichen Mann kaum in Einklang mit dem hochmütigen Lord Bradley, dem sie normalerweise begegnete, bringen.
»Sieh an, sieh an, wenn das nicht alte Erinnerungen weckt!«
Olivia drehte sich um. Mrs Howe stand auf der Schwelle, die Arme über der Brust verschränkt, ein Grübchen neben ihren rosafarbenen Lippen.
»Hallo Judith.« Lord Bradley begrüßte sie mit einer leichten Verbeugung, die in Hemdsärmeln nicht ganz so förmlich ausfiel.
Sie schüttelte den Kopf. In ihren runden, porzellanblauen Augen leuchteten Erheiterung und Irritation zugleich auf. »George Linton war hier. Hodges konnte dich nicht finden.«
Lord Bradley sprang hoch, um einen von Andrews wilden Schüssen zurückzugeben. »Tut mir leid.«
»Es tut dir nicht im Mindesten leid, und das weißt du genau.«
Er streckte sich und schaffte es, einen Ball herunterzuholen, der dicht unter die Decke geflogen war. Der Mann hat die Spannweite eines Kranichs , dachte Olivia.
»Erinnerst du dich, wie du, Felix und ich genau in diesem Zimmer gespielt haben?«, fragte Judith. »Mit George Linton oder sogar deinem Vater als viertem Mitspieler?«
Er nickte, konzentrierte sich jedoch weiterhin auf das Spiel.
Einer von Audreys Schüssen ging weit abseits an die Wand, und als Olivia den Ball aufhob, trat sie zu Mrs Howe. Spontan streckte sie ihr den Schläger und den Federball hin.
Die Frau zögerte und sah an ihrem schwarz-weiß-gestreiften Spazierkleid herab. »Nein, danke, ich bin nicht wirklich –«
»Ach, komm schon, Jude«, bettelte Lord Bradley in scherzhaftem Ton. »Du bist doch noch nicht altersschwach.«
»Spiel mit uns, bitte!«, flehte Audrey.
Judith Howe grinste. »Na gut. Aber
Weitere Kostenlose Bücher