Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
Gott allein wusste, wo sie nächstes Jahr an Weihnachten sein würde.
In ihren freien Momenten, wenn die Kinder anderweitig beschäftigt waren oder in ihren Betten lagen, schnitt Olivia heimlich Stoffe zu, heftete und nähte, um winzige Bettdecken, Polster und Kissen für das Puppenhaus herzustellen. Aus einem schmalen Streifen Balsaholz bastelte sie einen Miniatur-Stickrahmen und wickelte winzige Wollknäuel aus Stickgarn. Sie malte einige kleine Landschaftsbilder und rahmte sie in alte Schuhschnallen. Sie beteiligte sogar Audrey ohne deren Wissen, indem sie ihr ein winziges Stück Leinwand gab und vorschlug, sie solle versuchen, einen der Drucke an der Kinderzimmerwand im Miniaturformat zu kopieren. Ahnungslos verbrachte Audrey auf diese Weise einen angenehmen Nachmittag.
Wenn das Wetter es erlaubte, trug Olivia diese kleinen Gaben in ihrer Umhangtasche in die Werkstatt und deponierte sie so, dass Lord Bradley sie finden würde. Sie war zugleich erleichtert und enttäuscht, dass er nie anwesend war, um sie persönlich entgegenzunehmen. Sie hoffte, er würde sich freuen, und stellte sich sein schiefes Lächeln vor, bei dem er einen Mundwinkel nach oben zog, wenn ihm etwas gefiel.
Eines Morgens hatte sie das Vergnügen, ihn zu treffen. Sie klopfte leise und als sie eintrat, begutachtete er gerade einen der hölzernen Bauklötze, die er für Alexander angefertigt hatte.
»Ah, Miss Keene«, sagte er. »Ich habe gerade an Sie gedacht.«
Ihre Nerven prickelten vor Aufregung. Hatte er positiv an sie gedacht, oder …?
»Mir scheint, es fehlen ein paar von den Bauklötzen, die ich für Alexander gebastelt habe. Haben Sie welche herumliegen sehen?«
»Nein«, antwortete sie ungezwungen. Dann bemerkte sie, dass er sie immer noch anschaute, als wolle er ihre Aufrichtigkeit prüfen. Der Gedanke kränkte sie. »Sicher unterstellen Sie mir nicht, dass –«
Er hob beschwichtigend die Hand. »Ich dachte nur, Sie hätten vielleicht gesehen, wo ich sie hingelegt habe, oder hätten unabsichtlich einige zusammen mit einer Rolle Garn oder etwas Ähnlichem mitgenommen.«
»Nein, habe ich nicht.«
Er nickte, aber er sah sich immer noch verwirrt und suchend in der Werkstatt um.
Enttäuscht legte sie die winzigen Bilder und Teppiche, die sie angefertigt hatte, auf den Tisch und wandte sich zum Gehen.
Seine Stimme stoppte sie an der Tür. »Diese Sachen sind hervorragend, Miss Keene. Wirklich entzückend. Und die Polster passen ganz genau auf das Sofa. Das haben Sie sehr gut gemacht!«
Sie nahm das Lob mit einem Neigen des Kopfes entgegen, doch ihre Freude wurde durch das nagende Gefühl getrübt, dass er sofort angenommen hatte, sie – Eindringling, Lauscherin, Diebin – sei verantwortlich für die fehlenden Klötze.
Am Morgen des Heiligen Abends, nachdem Olivia ihr Bett gemacht, sich gewaschen und angezogen hatte, öffnete sie ihre Schublade und zog die kleine Börse ihrer Mutter unter einem Taschentuch hervor. Sie setzte sich aufs Bett und öffnete den Beutel auf ihrem Schoß. Sie nahm den versiegelten Brief in die Hand und hielt ihn gegen das schwache Licht der Morgensonne, das durch ihr Fenster schien. Es war nichts zu erkennen. Sie betrachtete noch einmal die Worte auf der Außenseite und ließ ihre Finger über die zierliche Handschrift ihrer Mutter gleiten.
Schließlich legte sie den Brief zurück und griff nach dem alten Zeitungsausschnitt. Sie wusste inzwischen, dass es sich um die Heiratsankündigung seines Vaters und nicht des gegenwärtigen Lord Bradley handelte, wie sie zuerst angenommen hatte. Offenbar war Lord Bradley der Titel, den der älteste Sohn innehatte, bis sein Vater starb, und dann wurde dieser Sohn der nächste Earl, der nächste Lord Brightwell . Erneut fragte sie sich, warum ihre Mutter diesen Ausschnitt aufbewahrt hatte.
Jemand kratzte an der Tür und öffnete sie mit Schwung, bevor Olivia reagieren konnte. Schnell verschloss sie die Börse und als sie aufblickte, sah sie Mrs Howe vor sich, die sie mit hochgezogenen Brauen musterte.
Olivia erhob sich mit pochendem Herzschlag. Was hatte sie falsch gemacht?
Jetzt erst entdeckte sie das Kleid, das Judith Howe über dem Arm trug. Zweifellos musste ein Stück Spitze geflickt oder ein Saum nachgenäht werden.
»Guten Morgen, Miss Keene.«
Olivia wunderte sich erneut, warum ihre Herrin sie so ansprach, aber sie freute sich über diesen offensichtlichen Ausdruck des Respekts.
»Mir ist aufgefallen, dass Sie nur das eine Kleid
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