Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
Judith zu erhaschen, die George schon seit der Kindheit vergeblich bewunderte.
Sie versuchte es mit einem anderen Thema. »Dominicks Mutter hat geschrieben, um zu fragen, ob ich eine neue Gouvernante für Audrey und Andrew engagiert habe.« Sie unterbrach sich, um von ihrem Wein zu nippen. »Ich vermute, ich muss das tun, obwohl mir vor der Vorstellung so sehr graut – mir wieder ein Geschöpf wie Miss Dowdle ins Haus zu holen, die meint, besser gebildet zu sein als ich und gesellschaftlich auf derselben Stufe mit mir zu stehen, wenn da nicht ihre eingeschränkten Verhältnisse wären. Die dann die Mahlzeiten mit uns einnehmen, Gesellschaften besuchen und die männlichen Mitglieder der Familie verführen möchte.« Sie schob sich ein winziges Stück Kapaun in den Mund. »Du hast ja selbst gesehen, wie es mit Felix war. Ich war noch nie so erleichtert wie an dem Tag, als Miss Dowdle uns verlassen hat – und nicht nur, weil sie so streng zu Audrey und Andrew war. Sie besaß sogar die Stirn, mir einen Vortrag über die richtige Art der Kindererziehung zu halten.«
Edward widersprach nicht. Auch er hatte Miss Dowdle als höchst unangenehm empfunden und sich Sorgen gemacht, wohin Felix' Flirt mit ihr führen würde.
Er merkte, dass er es Judith lang genug allein überlassen hatte, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, wischte sich den Mund mit einer Leinenserviette ab und fing ein eigenes Thema an. »Wie sollen wir es mit Weihnachten halten?«
Während sie an einer Süßigkeit knabberte, antwortete Judith nachdenklich: »Ich nehme an, in irgendeiner Art müssen wir feiern, schon den Kindern zuliebe.«
»Das sehe ich auch so. Aber lass uns dieses Jahr sparsam mit Einladungen sein.«
Judith nickte zustimmend.
Im Bewusstsein der Abwesenheit von Lord und Lady Brightwell planten sie gemeinsam eine viel kleinere Gesellschaft als sonst. Keine entfernten Verwandten sollten dabei sein. Keine Freunde aus London anreisen. Sie würden nur ihre Nachbarn zu sich bitten – George Linton, seine Schwester Charity und ihre Eltern, den Pfarrer und seine Schwester und Admiral Harrington und seine Tochter. Edward würde außerdem die Schwestern seines Vaters einladen, obwohl er bezweifelte, dass seine unverheirateten Tanten zu dieser Jahreszeit die Reise von der Küste her unternehmen würden. Judith würde ihrer Mutter vorschlagen zu kommen, wobei sie zu wissen meinte, dass Mrs Bradley Weihnachten bei Freunden in Bath verbringen wollte.
»Aber Felix wird natürlich kommen«, fügte Judith hinzu.
Edward nickte. »Wann wird er eintreffen?«
»Wer weiß das schon bei Felix? Aber er wird Mrs Moores Früchtekuchen sicher nicht versäumen wollen und auch nicht die Gelegenheit, sich länger in Brightwell Court aufzuhalten, als er uns willkommen ist – das weiß ich mit Sicherheit!«
Edward seufzte innerlich. Genau das war seine Befürchtung.
14
Ich bin eifrig damit beschäftigt gewesen, alle Vorbereitungen für ein würdiges Weihnachtsfest zu treffen. Mein Rinderbraten und mein Früchtekuchen sind fertig (wovon meine Nachbarn etwas zu sich nehmen werden) und meine Stechpalmen- und Mistelzweige sind gesammelt.
Brief aus: »A Wife, a Mother, and an Englishwoman«,
Examiner, 1818
Olivia erlebte die Verwandlung von Brightwell Court voller Staunen und Entzücken mit. Mithilfe der Hausmädchen und des Laufburschen verzierte Mrs Hinkley die Kaminsimse, Fenster und Türrahmen mit ineinander verschlungenen Zweigen aus Rosmarin, Lorbeer, Efeu und Eibe. Dann schlang sie eine lange Stechpalmengirlande um das Geländer der imposanten Treppe. »In Erinnerung an seine Dornenkrone«, flüsterte sie ehrfürchtig. Bald war das ganze Herrenhaus durchdrungen vom würzigen Duft der grünen Zweige.
Doris, stets gewieft, hängte ein Bündel Mistelzweige über die Schwelle zum Aufenthaltsraum der Dienerschaft. Mrs Hinkley verbot diese Dekoration in allen anderen öffentlich zugänglichen Räumen in den oberen Stockwerken, aus Furcht, der Pfarrer würde diese heidnische Tradition missbilligend betrachten.
Im Kinderzimmer half Olivia den Kindern, Sterne und Luftschlangen aus Seiden- und Goldpapier zu schneiden, mit denen sie ihren eigenen Kamin und die Wände verzierten. Sie wünschte, sie könnte ihren Zöglingen und auch Mrs Moore kleine Geschenke kaufen. Vielleicht nächstes Jahr , dachte sie und schalt sich sofort selbst. Nächstes Jahr würde sie nicht mehr in Brightwell Court sein. Jeden Tag konnte ihre Mutter kommen, um sie abzuholen, und
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