Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
Admiral?«, fragte er.
»Er verbringt ein paar Tage mit seinem kränklichen Onkel, aber er hat darauf bestanden, dass ich wie geplant komme, auch ohne ihn.«
»Es freut mich sehr, dass Sie sich dazu entschieden haben.« Lord Bradley lächelte herzlich und Olivias Inneres zog sich schmerzhaft zusammen. Er bot Miss Harrington den Arm und geleitete sie außer Sichtweite.
Doris sah ihnen nach und bemerkte seufzend: »Wie schade, dass sie so eitel ist wie eine Alabasterbüste.« Sie grinste. »Und auch nicht mehr Herz hat als eine Statue.«
Eigentlich hätte Olivia sich wünschen sollen, dass das nicht stimmte. Doch was sie sich in Wirklichkeit wünschte, mochte sie sich nicht eingestehen.
Kurz darauf trafen die Tugwells und die Lintons ein, um den Abend in festlichem Beisammensein vor dem Kamin zu verbringen. Als Olivia Audrey und Andrew ins Empfangszimmer hinunterbrachte, blieb sie auf der Schwelle stehen, um den Raum zu bewundern. An den Wänden hingen goldgerahmte Porträts über einer seidenen Verkleidung aus purpurroter und grüner Seide. An den hohen Fenstern waren passende Gardinen angebracht und die Stühle und Sofas waren mit sattem apfelgrünem Samt gepolstert. Kerzen und ein Kristalllüster leuchteten und wurden im großen Spiegel über dem marmornen Kamin reflektiert. Die Jungen des Pfarrers saßen zusammen an einem Kartentisch und fingen gerade ein Kinderspiel miteinander an, während die Erwachsenen vor einem prasselnden Feuer saßen und Tee tranken.
Olivia erkannte den älteren Mr Linton als Jagdmeister und seinen fülligen Sohn George als den spöttischen Reiter auf dem Rotschimmel, aber sie hielt es für unwahrscheinlich, dass einer der Männer sie erkennen würde. Sie wandte sich zum Gehen, doch Judith Howe bat sie, dazubleiben und die Kinder auf dem Klavier zu begleiten.
Mr Tugwells ältester Sohn, Amos, war über Weihnachten zu Hause und trug zusammen mit seinen vier jüngeren Brüdern »Herbei, oh ihr Gläubigen« mehrstimmig vor. Es klang so lieblich, dass Olivia zu Tränen gerührt wurde, während sie die Begleitung spielte. Audrey und Andrew, die für diesen Anlass herausgeputzt worden waren, sangen »While Shepherds Watched Their Flocks by Night«. Sie waren mit dem gleichen Eifer, wenn auch etwas weniger Begabung bei der Sache wie die Tugwells.
Anschließend brachte Osborne ein Tablett mit weihnachtlichen Genüssen herein – Pfeifente, eingelegter Ingwer, Apfelbrot, Sandwiches und Obsttörtchen. Die Erwachsenen nippten an gewürztem Apfelwein und Grog, während die Kinder Honigmilch und Syllabub 1 tranken. Olivia konnte fast den dicken, süßen Syllabub ihrer Mutter schmecken, obwohl ihr nichts angeboten wurde.
Olivias Weihnachtsfeiern daheim waren viel stiller verlaufen, doch trotzdem vermisste sie die warme Behaglichkeit vergangener Christfeste. Sie hatte mit ihrer Mutter und ihrem Vater am Kamin gesessen, Kastanien geröstet und kleine Geschenke geöffnet. Ihr Vater war meistens den ganzen Abend bei ihnen geblieben und hatte sich am Heiligen Abend selten in die Krone und Krähe verzogen. Manchmal hatte er sich von Olivias Mutter überreden lassen, »Herbei, oh ihr Gläubigen« zu singen, und Olivia hatte jedes Mal wieder über seine samtene, sehnsuchtsvolle Stimme gestaunt. Wenn nur all ihre gemeinsamen Tage so angenehm gewesen wären!
Audrey bettelte um einen Weihnachtsball. Sie hätten letztes Jahr getanzt, sagte sie und fragte, ob sie das dieses Jahr nicht auch machen könnten.
Schließlich setzten sich die Erwachsenen in Bewegung, um den Wunsch zu erfüllen. Lord Bradley, Felix, George Linton und Mr Tugwell räumten in Windeseile die schweren Sessel beiseite und rollten den Teppich zusammen, weil sie den Dienern am Heiligen Abend keine zusätzliche Arbeit aufbürden wollten. Wieder wurde Olivia gebeten zu spielen. Es bildeten sich fünf Paare: Edward und Miss Harrington, Felix und die unscheinbare Miss Charity Linton, Mr Tugwell und seine Schwester Augusta, George Linton und seine Mutter, Amos Tugwell und Audrey. Judith berief sich auf ihren Witwenstand und der ältere Mr Linton auf seine Gicht, und beide begnügten sich damit, den anderen zuzuschauen. Andrew und die jüngeren Tugwell-Kinder kehrten zu ihrem Spiel zurück.
Olivia wünschte, ihre Künste am Klavier wären besser. Sie hatte nie zuvor für einen echten Ball gespielt, nur für den Tanzlehrer an Miss Cresswells Schule. Sie spielte einen Volkstanz und den Rigadoon, einen französischen Springtanz, aber dann trat
Weitere Kostenlose Bücher