Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
besitzen.«
Olivia spürte, wie sich ihre Lippen öffneten. Sie sah zu Boden, in der Hoffnung, die Röte verbergen zu können, die heiß in ihre Wangen stieg. Hatte sie die Familie blamiert?
Mrs Howe fuhr fort. »Da es Weihnachten ist, habe ich mir überlegt, Ihnen eines meiner Kleider zu schenken.«
Ein abgelegtes Kleid? Olivias Stolz bäumte sich auf.
Ihre Herrin hob das dunkelblaue Kleid hoch. »Ich werde das hier nie wieder tragen. Wenn meine Trauerzeit vorbei ist, werde ich eine komplett neue Garderobe brauchen.«
Das ihr zugedachte Kleid war Olivias Stellung angemessen. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass Mrs Howe vor ihrer Trauerzeit freiwillig etwas so Sittsames und Schlichtes getragen hatte. Olivias Stolz drängte sie erneut dazu, es abzulehnen, aber ihre praktische Veranlagung zwang sie, das Geschenk anzunehmen. Schließlich war es Weihnachten. Und hatte es sie nicht geschmerzt, als Croome ihre Gabe abgelehnt hatte? Sie schenkte Mrs Howe ein kurzes Lächeln, knickste und streckte die Arme aus, um das Kleid in Empfang zu nehmen.
Später an diesem Nachmittag blieb Olivia an einem hohen Fenster in der Eingangshalle stehen, weil sie draußen das Geräusch von Pferdehufen und Wagenrädern gehört hatte. Er war nicht die Kutsche von Brightwell, sondern eher eine Reisekutsche. Sie beobachtete, wie ein livrierter Lakai einer eleganten jungen Dame mit einem großen, kunstvoll verzierten Hut und pelzverbrämtem Mantel aus der Kutsche half. Es folgte ihr eine ergeben wirkende Frau, die den Mantel der Dame beim Gehen zurechtzupfte. Zweifellos ihre Kammerzofe. Wer war die Dame? Natürlich war sie ein Gast, der eingeladen war, Weihnachten mit der Familie zu verbringen. Aber wer war sie?
Olivia hatte mitbekommen, wie Judith Audrey erklärt hatte, dass sie dieses Jahr ein ruhigeres Weihnachtsfest feiern würden. Lord Bradley würde anstelle seines Vaters als Gastgeber auftreten, während Judith die Rolle der Gastgeberin übernehmen würde, vermutete Olivia.
Jemand packte sie am Arm und Olivia zuckte zusammen, aber es war nur Doris mit dem Staubwedel in der Hand.
»Kommen Sie weg von hier, Schätzchen«, flüsterte sie. »Es wird nicht erwünscht sein, dass Sie die Gäste begrüßen.«
Sie zerrte Olivia in eine nahe gelegene Kammer, gerade als Hodges in die Halle rauschte und die Eingangstüren öffnete. Dory zog die Tür der Kammer bis auf einen Spalt zu, und durch diesen Schlitz spähten sie in die Halle, wo der Gast empfangen wurde.
Olivia sank das Herz, als sie über Dorys Schulter beobachtete, wie die elegante junge Dame langsam ihren Mantel öffnete. Die groß gewachsene, anmutige Frau hatte karamellbraunes Haar, edle Gesichtszüge und große braune Augen.
Als sie die Schnallen geöffnet hatte, nahm Hodges ihr den Mantel ab. Das tief ausgeschnittene Oberteil ihres cremeweißen Kleides war mit glänzenden Perlen bestickt. Um den Hals trug sie eine Kette mit einer großen Kamee und ihre behandschuhten Handgelenke waren mit funkelnden Edelsteinen geschmückt.
Olivia hätte fast geflüstert: »Wer ist das?« Aber bevor ihr ein Wort herausrutschen konnte, sagte Doris mit gedämpfter Stimme: »Das ist Miss Harrington. Ist sie nicht wunderschön? Ihr Vater ist ein Admiral und sehr wohlhabend. Man sagt, Lord Bradley würde sie wegen ihrer Mitgift heiraten, auch wenn sie gesellschaftlich unter ihm steht.«
Reich und schön … Der Gedanke schmerzte wie ein zu enger Schuh. Olivia wurde nervös hinter der Tür. Vielleicht war Miss Harrington die wichtige Angelegenheit, die Lord Bradley erwähnt hatte, die Sache, die bald geregelt sein sollte – und die durch Gerüchte und eine drohende Bloßstellung kompliziert werden könnte.
Plötzlich öffnete Hodges die Tür der Kammer und Olivia hätte beinahe laut gekeucht. Dory legte sich einen Finger auf den Mund. Der Mann wirkte leicht überrascht, sie hier zu finden, aber da Doris und Olivia sich gegen die Wand drückten, bewegte er sich an ihnen vorbei, um den Mantel der Dame aufzuhängen. Dann trat er aus der Kammer und schloss wortlos die Tür. Zweifellos würden sie später eine Zurechtweisung erhalten.
»Machen Sie sich keine Sorgen, Schätzchen«, flüsterte Doris. »Sie haben nichts zu befürchten. Von Bediensteten wird erwartet, dass sie sich unsichtbar machen.«
Doris öffnete die Tür wieder einen Spalt und Olivia sah, dass Lord Bradley sich in der Halle zu Miss Harrington gesellt hatte. Er verbeugte sich vor ihr und ergriff ihre Hände.
»Wo ist der
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