Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
Tisch saß und Domino spielte. Ihre weit aufgerissenen bewundernden Augen verrieten, dass sie Amos Tugwell für eine romantische Gestalt hielt.
Aber wo war Andrew? War er bereits nach oben gegangen?
Olivia drehte sich zum Gang um und sah ihn. Er lag zusammengerollt auf der gepolsterten Bank, auf der die Söhne des Pfarrers ihre Mäntel abgelegt hatten, und schlief fest. Der arme Kleine war erschöpft. Sie ging vor ihm in die Hocke. »Andrew?«, flüsterte sie, ohne daran zu denken, dass sie nicht sprechen durfte. Das Kind bewegte sich nicht. Sanft strich sie ihm die braunen Haare aus der Stirn. Ihr war der Gedanke zuwider, den Jungen zu wecken, aber er war so schwer, dass sie ihn nicht die vielen Stufen nach oben tragen konnte.
»Soll ich ihn tragen?«, fragte eine Stimme.
Sie zuckte zusammen und hob den Blick. Lord Bradley stand über ihr. Sie hatte ihn nicht kommen hören. Hatte er gehört, wie sie Andrews Namen ausgesprochen hatte?
Sie nickte und formte lautlos ein »Dankeschön«.
Er beugte sich vor, nahm den Jungen mühelos und sanft in seine Arme und trug ihn zur Treppe. Olivia folgte ihm.
Auf dem Weg zum Kinderzimmer atmete Lord Bradley immer schwerer, aber er trug das Kind, ohne anzuhalten. Als sie die Schlafkammer erreichten, beeilte sich Olivia, ihm zu helfen. Sie zog die Decke beiseite, damit er Andrew auf sein Bett legen konnte.
»Ich danke Ihnen«, flüsterte sie, diesmal hörbar.
»Das sind eine Menge Stufen«, keuchte er und scheute sich nicht, die Hände auf den Knien abzustützen, um wieder zu Atem zu kommen.
»Es tut mir leid. Ich hätte versuchen sollen –«
»Nein, natürlich hätten Sie das nicht versuchen sollen. Mir tut es nur leid, dass ich so jämmerlich außer Atem bin. Ich muss mich regelmäßiger bewegen, das sehe ich.«
Olivia befreite Andrew von seinen Schuhen und fragte sich, wo Becky war. Gleichzeitig war sie auch irgendwie erleichtert, dass das Dienstmädchen fehlte.
Es überraschte sie, dass Lord Bradley keine Anstalten machte zu gehen. »Ich werde mich um ihn kümmern, Mylord. Sicher möchten Sie gern zu Ihren Gästen zurückkehren.«
Er stieß den Atem aus. »Nicht so gern, wie ich sollte.«
Er half ihr, Andrew die lange Hose und die Jacke auszuziehen. Sein kleines Halstuch hatte er vorher schon längst irgendwo abgelegt. »Lassen wir ihn schlafen, wie er ist«, flüsterte Lord Bradley.
Sie nickte und lockerte Andrews Hemd am Hals. Jetzt, als das weiße Hemd nicht mehr in der Hose feststeckte, bauschte es sich und sah fast wie ein Nachthemd aus. Noch immer konnte sich Lord Bradley nicht losreißen. Er beugte sich tief über den Jungen und strich ihm die Haare aus der Stirn, ähnlich wie Olivia es vorher gemacht hatte. Wie würde es sich anfühlen, fragte sie sich, so zärtlich von ihm berührt zu werden? Oder sein helles Haar mit ihren Fingern zu streicheln?
»Er ähnelt seinem Vater sehr«, bemerkte Lord Bradley leise.
»Tatsächlich?«
»Ja, das dunkle Haar, der Haarwirbel, das schelmische Gesicht – alles ganz wie bei Dominick.«
»Haben Sie ihn gut gekannt?«
»Ziemlich gut, ja, obwohl er sechs oder sieben Jahre älter war als ich. Unser Haus in London war nicht weit von seinem entfernt und wir verbrachten viel Zeit zusammen, wenn wir zur Saison in der Stadt waren. Dominick war immer freundlich zu mir – sogar bevor er wusste, dass ich eine schöne Cousine habe, die er eines Tages heiraten könnte. Er war damals verliebt in seine Jeanette und heiratete sie, als er noch recht jung war. Es machte ihm schwer zu schaffen, als sie starb. Ich muss zugeben, ich war überrascht, dass er sich so schnell wieder fing und Judith nur achtzehn Monate später heiratete. Von so einem Verlust würde ich mich nicht so bald erholen.«
Ich auch nicht , dachte sie. »Allerdings hatte er zwei Kinder, die eine Mutter brauchten.«
Seine Miene verdüsterte sich. »Ja.« Er zögerte, besann sich eines Besseren und sprach nicht aus, was er hatte sagen wollen. Stattdessen richtete er sich auf. »Ich weiß die Fürsorge, die Sie meinen jungen Verwandten widmen, sehr zu schätzen, Miss Keene. Ich bin sicher, ihre Stiefmutter empfindet ebenso, auch wenn sie es nicht sagt.«
»Danke, Mylord. Es ist mir ein Vergnügen.« Ihr wurde neu bewusst, dass Audrey und Andrew sowohl Mutter als auch Vater verloren hatten. Die armen Kleinen! Kein Wunder, dass Lord Bradley sich so intensiv um sie kümmerte.
Er schürzte die Lippen und sagte dann ruhig: »Ich finde es interessant, dass Sie mich
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